AGIL-Schema

Die Analyse politischer Wirklichkeit ist an Bedingungen gebunden. Sie bedarf

  • angemessener Begriffe,
  • erprobter Untersuchungskonzepte,
  • nachvollziehbarer Denk- und Arbeitsweisen sowie
  • vereinfachender Modelle bzw. Schemata.

Derartige Modelle sind axiomatische Ausgangspunkte für das Verstehen und die Analyse. Für die Analyse von Politik und Gesellschaft wurde seit den 1950er-Jahren das vom amerikanischen Soziologen TALCOTT PARSONS (1902–1979) entwickelte Vier-Funktionen-Schema AGIL grundlegend. Das Schema ist Bestandteil der von PARSONS begründeten strukturell-funktionalen Theorie. Es lenkt den Blick auf die Zusammenhänge zwischen Strukturen und Funktionen.

Moderne Gesellschaften sind bereits vom Reichtum ihrer Strukturen her von hoher Komplexität. Eine entwickelte industrielle Dienstleistungsgesellschaft wie die in Deutschland und in den meisten EU-Mitgliedsländern ist gekennzeichnet durch:

  • starke Arbeitsteilung (Vielzahl der Berufe und Beschäftigungen),
  • verschiedene Arten der sozialen Organisation und Mitgliedschaft (Familie, Freundschaft, Betrieb, Verein, Gemeinde),
  • verschiedene Ebenen der Sozialstruktur (Unter-, Mittel-, Oberschicht) und
  • verschiedene Faktoren, die den Ort der Person im gesellschaftlichen Aufbau beeinflussen (Beruf, Bildung, Herkunft, Einkommen, Einfluss).

Die Entwicklungswege, die Gesellschaften aufgrund ihrer Strukturen, Akteure und Prozesse einschlagen, sind einerseits richtungsoffen, d. h. sie könnten stets auch anders sein, andererseits nicht ohne Regeln und Systematisierungen. Diese Regeln zu erkennen, zu interpretieren und in Modellen und Schemata zusammenzufassen, ist Aufgabe der modernen Politik- und Sozialwissenschaften.

Politik- und Sozialwissenschaften verstehen sich als Erfahrungswissenschaften, die also ihre Erkenntnisse auf Erfahrungen gründen. Sie systematisieren Erfahrungen in Begriffen und Aussagen als Modelle der Erfahrungswelt. Es ist nicht die empirisch beobachtbare Erfahrungswelt selbst, sondern es sind abstrakte Konzepte, die aus der Systematisierung der verschiedenen Aspekte eines Sachverhalts gewonnen werden. Je nach Ausgangspunkt und Standort der Wissenschaftler entstehen unterschiedliche Schemata. In der Politikanalyse angewandte Schemata sind vor allem:

  • das Schema der sieben Grundfunktionen eines jeden politischen Systems (GABRIEL A. ALMOND, G. BINGHAM POWELL, Jr.);
     
  • das MINK-Schema der vier Grundtatsachen der Politik (WERNER J. PATZELT);
     
  • die Dreiteilung des Politischen (Bild 2) in die Politikdimensionen Form (polity), Inhalt (policy), Prozess (politics) sowie
     
  • das Vier-Funktionen-Schema AGIL (TALCOTT PARSONS).

AGIL-Schema

Zwei Ausgangspunkte kennzeichnen PARSONS Konstruktion:

  • Das ist zum einen die grundlegende These der Systemtheorie, dass sich überall in der Erfahrungswelt Systembildungen finden, mithin in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung das Prinzip der Systematisierung angewendet wird.
     
  • Zum anderen bildete die Handlungstheorie MAX WEBERs (1864–1920), die PARSONS weiterentwickelte, einen Ausgangspunkt. Danach ist Handeln eine Form des Verhaltens. Menschen handeln nicht zufällig, sondern zielgerichtet. Handeln findet in konkreten Situationen statt, ist normativ geregelt und erfordert ein bestimmtes Maß an Energie oder Motivation.

„Handeln besteht aus den Strukturen und Prozessen, in denen Menschen ihre sinnhaften Intentionen ausdrücken und mit deren Hilfe sie diese Intentionen in konkreten Situationen mehr oder minder erfolgreich verwirklichen“ (TALCOTT PARSONS, Zur Theorie sozialer Systeme, 1976, S. 121).

Handeln ist systembildend (Handlungssysteme). Der Grund dafür ist ein anthropologischer. Als „organisches Mängelwesen“ (JOHANN GOTTFRIED HERDER, 1744–1803), unspezialisiert und ohne Instinktführung, ist der Mensch in der natürlichen Umwelt lebensunfähig. Andererseits ist sein Organismus überaus fähig, sich auf gegebene Lebensbedingungen einzustellen und passende Bedingungen zu schaffen. Im Handeln der Menschen äußern sich Sinnstrukturen (Handlungsziele, -muster), die es zu untersuchen gilt.

Nun lenkt PARSONS den Blick nicht auf das konkrete physische Handeln, sondern auf abstrakte Handlungsschemata. Sie entstehen dann, wenn in gesellschaftlichen Systemen – etwa der Politik oder der Wirtschaft – in spezifischer Art und Weise Probleme (Handlungsaufforderungen) wahrgenommen, ausgewählt, organisiert und bearbeitet werden. Derartige Schemata bzw. Modelle umfassen typische Aufgaben, die in einem Handlungssystem erfüllt werden müssen. Handlungssysteme können sowohl einzelne Menschen, Gruppen oder Gesellschaften sein. Sie stehen mit ihrer jeweiligen Umwelt im Austausch (System-Umwelt-Beziehung). Gesellschaft ist dann jenes soziale System, das den höchsten Grad an Autarkie (Selbstgenügsamkeit) im Verhältnis zur Umwelt erreicht.
Die handelnde Gesellschaft bezeichnet PARSONS als „Allgemeines Handlungssystem“.
Gesellschaft entsteht aus dem Zusammenwirken von vier Subsystemen:

  • das Sozialsystem als „gesellschaftlich organisiertes Gemeinwesen“, das sich in Form von Mitgliedschaften – mit Rechten und Pflichten und einer normativen Ordnung organisiert;
     
  • das Kultursystem als Menge von Interpretationsschemata, die das Geschehen auf einen gemeinsamen Sinn hin auslegen und die normative Gesellschaftsordnung rechtfertigen (Legitimation); das Kultursystem formt aus den Wertbildungen der Menschen gegenüber der „letzten Wirklichkeit“ (Religion, Transzendenz) sinnhafte Orientierungshilfen;
     
  • das Persönlichkeitssystem als Haupttriebkraft von Handlungen;
     
  • der Verhaltensorganismus als die Gesamtheit der primären physischen und psychischen Fähigkeiten der Menschen.

Jedes Handlungssystem hat bestimmte Grundfunktionen zu erfüllen, um den Bestand und die Entwicklungsmöglichkeit des Systems zu gewährleisten. Sie lassen sich nach dem AGIL-Schema auf vier Hauptaufgaben reduzieren:

Grundfunktionen von Handlungssystemen
adaption

A

Anpassung des Systems an seine Umwelt und Regelung des Austauschs mit ihr, flexibler und rationaler Mitteleinsatz
goal attainment

G

Zielorientierung und -verwirklichung, zielverwirklichendes Handeln, Erfolgskontrolle

integration

I

Integration als Verknüpfung und Zusammenhalt der sozialen Beziehungen, von Mitgliedschaften und Loyalitäten
latent pattern maintenance

L

Strukturaufbau und schöpferischer Strukturwandel entsprechend den Grundprinzipien (Werte, Normen, Kulturmuster) des Systems


Wird das Schema auf ein ganzes Land, eine Gesellschaft angewendet, dann lassen sich die vier Grundfunktionen – stark vereinfacht – jeweils einem der vier primären Subsysteme als vorherrschende Aufgabe zuordnen:

GrundfunktionSubsystem
AnpassungWirtschaft
Zielorientierung und
-verwirklichung
Politik
IntegrationGesellschaft/Gemeinschaft
Strukturaufbau und -wandelKultur


Jedes der primären Teilsysteme hat aber auch für sich selbst alle vier Grundfunktionen wahrzunehmen. So erfüllt das politische System

  • über die staatlichen Haushalte und die Finanzverwaltung die A-Funktion,
     
  • durch Willensbildung und Entscheidung in Parteien, Parlamenten und Regierung die G-Funktion,
     
  • über Interessenwahrnehmung, Verhandlung und Rechtsprechung die I-Funktion und
     
  • schließlich mittels politischer Debatte, Rechtsetzung und politisch-kultureller Wertschätzung die L-Funktion.
Die drei Dimensionen der Politik: Politik wird – in Anlehnung an den englischen Sprachraum, der für das umfassende deutsche Wort „Politik“ die drei Bezeichnungen „policy“, „politics“ und „polity“ vorsieht – in drei Dimensionen gegliedert.

Die drei Dimensionen der Politik: Politik wird – in Anlehnung an den englischen Sprachraum, der für das umfassende deutsche Wort „Politik“ die drei Bezeichnungen „policy“, „politics“ und „polity“ vorsieht – in drei Dimensionen gegliedert.

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