Anfänge der europäischen Verfassungsdiskussion

Der europäische Einigungs- und Integrationsprozess ist begleitet von einer intensiven Debatte um eine Verfassung für Europa. Sie hat in der Vergangenheit in Schüben und in unterschiedlicher Intensität stattgefunden und erlangte im Zuge der ablehnenden Referenden (Volksentscheide) in Frankreich und in den Niederlanden im Mai und Juni 2005 eine Absage.

Erste konkrete Schritte in Richtung auf einen Verfassungsentwurf gehen auf das Jahr 1981 zurück. Damals setze das Europäische Parlament dieses Thema zum Amtsantritt der neuen Europäischen Kommission im Rahmen einer „Inventur-Debatte“ auf die Tagesordnung. Unter anderem schlug es vor, eine gemeinsame Europäische Verfassung auszuarbeiten. Verschiedene Versuche wurden unternommen, dieses Projekt umzusetzen. Allerdings mussten erst bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden, ehe eine öffentliche Debatte in Gang gesetzt werden konnte. Dabei handelt es sich um folgende Vertragswerke:

  • die Einheitliche Europäische Akte (1987),
  • den Vertrag von Maastricht (1992),
  • den Vertrag von Amsterdam (1997),
  • die Grundrechtecharta (2000) und
  • den Vertrag von Nizza (2000).

Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs

Mit der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch die Bundesrepublik Deutschland zum 1. Januar 1999 kam die europäische Verfassungsdiskussion erheblich in Bewegung. Am 4. Juni beschloss der Europäische Rat in Köln die Ausarbeitung einer Grundrechtecharta. Einem überwiegend mit Parlamentariern aus den EU-Mitgliedsstaaten besetzten Gremium gelang es unter Vorsitz des damaligen Bundespräsidenten ROMAN HERZOG (geb. 1934) innerhalb von 9 Monaten, einen tragfähigen Entwurf zu erarbeiten. In der „Grundrechtecharta der Europäischen Union“ sind die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die bislang in verschiedenen europäischen Verträgen niedergelegt worden waren, in einem Dokument zusammengefasst. Die Grundrechtecharta wurde vom Europäischen Rat am 14. Oktober 2000 in Biarritz (Frankreich) angenommen, blieb für die einzelnen Mitgliedstaaten der EU aber unverbindlich.

Das Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Nizza im Jahre 2000 sollte vor allem institutionelle Reformen der EU einleiten. Obwohl das Ergebnis insgesamt ernüchternd blieb, kam das Verfassungsvorhaben doch auf die Agenda der nächsten Regierungskonferenz. Auf Anregung des Europäischen Rates wurde im Jahre 2001 der Europäische Konvent eingerichtet. Diesem kam die Aufgabe zu, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Seit Februar 2002 tagte der Konvent zweimal monatlich in Brüssel und legte am 18. Juli 2003 seinen umfangreichen Verfassungstext vor.

Sinn und Nutzen der Europäischen Verfassung

Zeitgleich mit den Verhandlungen über die inhaltliche Ausgestaltung fand in der Öffentlichkeit eine lebhafte Debatte über den Sinn und Nutzen der Europäischen Verfassung statt. Hintergrund dafür ist die Frage, welche Rolle die EU künftig gegenüber ihren Mitgliedstaaten einnehmen soll. Zwar bestimmen die Verträge der EU zunehmend das Leben der EU-Bürger, doch erwächst ihr und ihren Institutionen daraus keine identitätsstiftende Bedeutung in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Diese mangelnde Identifikationskraft der EU wird vor allem auf folgende strukturelle Defizite zurückgeführt:

  • demokratische Legitimationsschwäche der EU-Institutionen,
  • Sprachenvielfalt innerhalb der EU-Bevölkerung,
  • Fehlen einer EU-weiten Öffentlichkeit,
  • geringe Identifikationskraft der EU-Symbole.

Diese mangelnde Identifikationskraft der EU steht in Gegensatz zum Selbstanspruch ihrer Repräsentanten, wonach die EU in erster Linie als eine Wertegemeinschaft angesehen wird. So sei ihre Grundlage der gemeinsame europäische Wertekanon, der jenseits aller politischen, religiösen, weltanschaulichen, lebensweltlichen, ethnischen und geschlechtlichen Differenzen auf folgenden tragenden Säulen beruhe:

  • Gleichheit,
  • Freiheit,
  • Gerechtigkeit,
  • Vernunft,
  • Solidarität,
  • Toleranz und dem
  • Bekenntnis zum sozialen Fortschritt.

Leitender Gedanke der Verfassungsdiskussion war es deshalb, diesem Wertekanon in der Lebenswelt und in der Wahrnehmung der Menschen einen entsprechenden Stellenwert zu verschaffen. Mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für eine Europäische Verfassung war damit zugleich die Absicht verbunden, eine Vision der EU in das Bewusstsein der Menschen zu rücken und ihr damit die bisher fehlende Identifikationskraft zu verleihen.

Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ (VVE), d. h. also der fertiggestellte Verfassungsentwurf, wurde schließlich am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs im Rahmen einer feierlichen Zeremonie in Rom unterzeichnet. Damit war der Weg frei für den Ratifizierungsprozess (die völkerrechtlich verbindliche Inkraftsetzung) in den 25 EU-Mitgliedstaaten.

Ursprünglich sollte dieser Prozess am 1. November 2006 abgeschlossen sein und die Europäische Verfassung an diesem Tag in Kraft treten. Doch nachdem am 29. Mai und 1. Juni 2005 in Frankreich und den Niederlanden die anlässlich der Ratifizierung der Verfassung veranstalteten Referenden (Volksabstimmungen) ablehnend ausgefallen waren, beschloss der Europäische Rat auf einem Gipfel in Brüssel am 17. Juni 2005, eine „Denkpause“ einzulegen.

Der Vertrag von Lissabon (2007)

Um einen neuen Anlauf für eine Verfassung der Europäischen Union zu starten, wurde am 13.10.2007 von allen 27 Mitgliedstaaten der Vertrag von Lissabon unterzeichnet (siehe PDF "Vertrag von Lissabon"). Dieser Vertrag übernimmt wesentliche Inhalte des abgelehnten Verfassungsentwurfs für Europa. Im Gegensatz dazu ersetzt er aber nicht das bisherige Vertragswerk, sondern er ändert und ergänzt die bestehenden Vertragsgrundlagen des europäischen Integrationsverbandes (EG- und EU-Vertrag).

Die wichtigsten Neuerungen des Reformvertrages betreffen die Ausweitung des Prinzips der qualifizierten Mehrheit für die meisten Politikbereiche bei Entscheidungen des Ministerrates, die Einführung des Amtes eines Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, eine Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments, die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens, eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente in den europäischen Gesetzgebungsprozess sowie die Einführung eines Klagerechts für nationale Parlamente vor dem Europäischen Gerichtshof, die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta und die Regelung eines EU-Austritts.

Der Vertrag tritt „am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikation folgenden Monats“ in Kraft (Art. 54 Abs. 2 EUV-Lissabon). Ursprünglich war ein Inkrafttreten ab dem 1. Januar 2009 vorgesehen. Nach dem ablehnenden ersten irischen Referendum im Juni 2008 verzögerte sich der Zeitplan. Beim zweiten irischen Referendum im Oktober 2009 sprach sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für den Vertrag aus, so dass er zum 1. Dezember 2009 inkraft treten konnte.

Im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise innerhalb der Eurozone seit 2010 taucht häufig der Begiff Fiskalunion auf. Gemeint ist hiermit eine gemeinsame Finanzpolitik der EU-Staaten, die es gestattet, in die Steuer- und Budgetgestaltung von Euro-Mitgliedsländern direkt einzugreifen, wenn sie finanzielle Hilfe der Partner erhalten. Dies würde in Form von neuen Institutionen und Gesetzespaketen geschehen.
Voraussichtlich im Frühjahr 2012 soll ein Konvent die Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) in Angriff nehmen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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