Begriff und Bereiche der Sozialpolitik
Die Sozialpolitik behandelt ähnlich wie die Wirtschaftspolitik ein generelles Thema, das seit Gründung der ersten Sozialversicherung 1883 sehr viel umfangreicher und auf verschiedene Politikressorts verteilt wurde. Sozialpolitik reicht von der Politik der sozialen Sicherung über die Politik zum Schutz der Arbeitnehmer, der Betriebsverfassung und Mitbestimmung bis zur Gesundheits-, Wohnungs-, Familien- und Vermögenspolitik. Durch Sozialpolitik wird dem in der Wirtschaft vorherrschenden individuellen Erwerbsstreben die Idee der gesellschaftlichen Solidarität an die Seite gestellt. Sozialpolitik sieht sich deshalb denen verpflichtet, die im Wirtschaftsleben aus verschiedensten Gründen keinen Platz finden oder aber herausfallen und deshalb zu verarmen drohen.
Verstärkt seit den 1970er-Jahren kommt das Ziel hinzu, Sozialpolitik als Umverteilungspolitik zur Annäherung der individuellen Einkommen und Vermögen einzusetzen. Das rechte Maß einer Balance zwischen Chancen, Risiken und Belastungen von Individuen, Gruppen und Schichten zu finden (soziale Gerechtigkeit), erweist sich als ständige politische Aufgabe.
Die staatliche Sozialpolitik begann, als die konservative Reichsregierung des Kanzlers OTTO VON BISMARCK (1815–1898) 1883 die Krankenversicherung und bis 1889 die Unfall-, Alters- und Invalidenversicherungen begründete. Errichtet wurden öffentlich-rechtliche Pflichtversicherungen von Arbeitern gegen die Risiken des Einkommensausfalls in Folge von Krankheit, Alter und Invalidität.
Der Aufbau einer Sozialversicherung der Beschäftigten war eine Antwort auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts – das Aufkommen eines mittellosen industriellen Proletariats – und stand zugleich in der Tradition des älteren Ordnungs- und Schutzgedankens der grundherrlichen Fürsorgepflicht. Den Reichsgesetzen waren solidarische Maßnahmen gesellschaftlicher Gruppen vorausgegangen, die in Form von Genossenschaften, Betrieben, Kirchengemeinden, Klöstern oder Kommunen gegenwärtige Unterstützung boten. Diese insgesamt noch unzureichenden Mittel wurden nun auf eine einheitliche und allgemein geltende Grundlage gestellt. Es blieb dennoch stets Raum außerhalb der staatlichen Sozialpolitik für gegenseitige gesellschaftliche Unterstützung. So zeigt die gegenwärtige deutsche Bevölkerung nationale und vor allem internationale Solidarität in Fällen von Katastrophen, Armut und Bildungsmangel durch ein hohes Spendenaufkommen.
Mit der Gründung der Sozialversicherung wurde Deutschland zum Pionier staatlicher Sozialpolitik. Was dabei anfangs noch geringe und nur ergänzende sozialpolitische Leistungen für wenige waren, entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur sozialen Sicherung für viele.
Die Gründungsgeschichte der Versicherungen birgt bereits die charakteristischen Merkmale der deutschen Sozialpolitik:
- Die Sozialversicherung wird an Erwerbsarbeit gebunden (Grundentscheidung). Die erwerbstätigen Generationen finanzieren somit auch Alte und Kinder (Generationenvertrag).
- Die Finanzierung erfolgt aus Beiträgen der versicherten Beschäftigten und deren Arbeitgeber sowie bei Defiziten aus Staatszuschüssen.
- Es handelt sich um eine Arbeitnehmerversicherung (Pflichtversicherung), deren Beiträge einen Rechtsanspruch auf Leistung begründen.
- Geboten wird nachträglicher Schutz (anstelle von Vorsorge).
- Die Beitragsfinanzierung begründet Mitsprache- und Selbstverwaltungsrechte der Beitragszahler. Sie kommen in den Einrichtungen der Sozialversicherungen (Körperschaften des öffentlichen Rechts) zum Tragen. Der Staat hat darauf verzichtet, eine eigene Sozialverwaltung aufzubauen.
- Vielfalt der Versicherungsträger:
– für die Krankenversicherung: Krankenkassen verschiedener Arten;
– für die Unfallversicherung: Berufsgenossenschaften;
– für die Rentenversicherung: Versicherungsanstalten des Bundes (für Angestellte), der Länder (für Arbeiter), Bundesknappschaft (Bergbau-Beschäftigte);
– für die Arbeitslosenversicherung: Bundesagentur für Arbeit.
Die staatliche Sozialpolitik im vereinten Deutschland soll den Zielen der
- sozialen Sicherheit und
- der sozialen Gerechtigkeit
dienen. Während das eine die Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Existenz gegen allgemeine Risiken meint, wird soziale Gerechtigkeit vor allem als Chancengleichheit verstanden:
- gleiche Staatschancen,
- Gleichbehandlung von Mann und Frau,
- Ausgleich unterschiedlicher Familienlasten,
- Hilfe für sozial Schwache.
Die praktische Sozialpolitik bearbeitet ein weit gespanntes Aktionsfeld, in dem verschiedene Ministerien, Parlamentsausschüsse, Wohlfahrts- und Berufsorganisationen Verantwortung tragen. Der Staat und die Verbände sind eng verflochten (korporatistischer Sozialstaat). Sozialpolitik umfasst
- die Institutionen der Sozialversicherungen sowie
- die Maßnahme und Einrichtungen weiterer Politikfelder.
Im Folgenden werden einzelne Sozialversicherungen sowie sozialpolitisch aktive Politikfelder vorgestellt.
Sozialversicherungen
Rentenversicherung: Renten sollen seit der Neuregelung von 1957 nicht Zubrot, sondern Existenzgrundlage sein. Sie werden an das jeweilige Niveau der Lohn-, Preis- und Produktivitätsentwicklung angepasst (Rentenanpassungsgesetze). Wegen der inzwischen längeren Lebensdauer und der geringeren Geburtenhäufigkeit der Deutschen wird zukünftig auch die Bevölkerungsentwicklung in die Berechnung der Rente (Rentenformel) einbezogen (als demographischer Faktor). Renten werden
- wegen Alters,
- wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder
- wegen Todes gezahlt.
Krankenversicherung: Bis zueiner bestimmten Höhe des Beschäftigungsentgelts (Beitragsbemessungsgrenze) besteht für Arbeiter, Angestellte Versicherungspflicht, des Weiteren für Künstler, Publizisten, Auszubildende und Studierende. Anspruch besteht nicht nur auf Krankenbehandlung, sondern begrenzt auch auf Maßnahmen zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten.
Arbeitslosenversicherung: Alle Arbeitnehmer sind Mitglieder der Arbeitslosenversicherung, deren Beiträge vom Bruttoverdienst sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen. Ab einer bestimmten Höhe ist das Einkommen versicherungsfrei (Beitragsbemessungsgrenze). Auftretende Defizite trägt der Staatshaushalt. Die Versicherungsleistung besteht im Arbeitslosengeld, dessen Höhe und Dauer an der Höhe und Dauer der Beitragszahlung gekoppelt ist. Auch werden Berufsberatung, Fortbildung und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (befristete Arbeitsstellen) finanziert. Endet das Arbeitslosengeld, besteht Anspruch auf geringere Arbeitslosenhilfe, die voll aus dem Staatshaushalt finanziert wird. Seit 2005 sind die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe in einer Leistung (Arbeitslosengeld II) verknüpft.
So genannte sozialpolitisch aktive Politikfelder sind:
Arbeitnehmerschutzpolitik: Regelungen zum Schutz vor Gefahren und Schädigungen, die aus erwerbsbedingter Beschäftigung entstehen können: Grundgebote der Arbeits- und Erholungszeiten, der Entlohnung, des Unfall-, Gesundheits- und Kündigungsschutzes.
Arbeitsmarktpolitik: Maßnahmen, die Beschäftigung nach individueller Fähigkeit befördern und Arbeitslosigkeit mit Maßnahmen wie Berufsberatung, Umschulung, Weiterbildung und Umzugsförderung reduzieren sollen.
Betriebsverfassung- und Mitbestimmungspolitik: Regelung der arbeitsrechtlichen Betriebsordnung und insbesondere der Beteiligung der Arbeitnehmer an betrieblichen Entscheidungsprozessen der Arbeitgeber. Gewählte Vertretungsgremium sind Betriebsrat (Unternehmen), Personalrat (Öffentlicher Dienst) und Sprecherausschuss (leitende Angestellte). Jugendliche Arbeitnehmer wählen die Jugend- und Auszubildenden-Vertretung.
Gesundheitspolitik: Regelung des Gesundheitswesens, das vorbeugende und beratende Gesundheits- und Veterinärämter sowie die Ordnungsbehörden zur Gesundheitsüberwachung (Seuchengefahr) umfasst. Zusammen mit den Verbänden der Ärzte, der Krankenkassen und der Krankenversicherungen ist der Finanzierungs- und Kostenrahmen der gesundheitlichen Leistungen festzulegen.
Wohnungspolitik: Im Mittelpunkt stehen der Wohnungsbau entsprechend den politischen Förderungsentscheidungen und die Nutzung und Erhaltung des Wohnungsbestandes.
Familien- und Jugendpolitik: Regelungen, die einen Ausgleich der durch Größe und Struktur der Familien verursachten Unterschiede bei den sozialen und finanziellen Lasten anstreben. Alle sollen möglichst gleiche Chancen der Entwicklung und Bildung haben.
Vermögenspolitik: Maßnahmen vor allem der Sparförderung, um Arbeitnehmern durch Vermögensbildung eine zusätzliche Einnahmequelle zu verschaffen.
Historisches
1881 | Kaiserliche Gesetzesinitiative zur Sozialversicherung |
1883 | Gesetz zur Krankenversicherung |
1884 | Gesetz zur Unfallversicherung |
1889 | Gesetz zur Invaliditäts- und Altersversicherung |
1927 | Gesetz zur Arbeitslosenvermittlung und -versicherung |
1957 | Neuregelung der Arbeiter- und Angestelltenrenten in Form der Produktivitätsrente (dynamische Rente) |
1957 | Krankenversicherung und Altershilfe für Landwirte |
1961 | Erstes Vermögensbildungsgesetz |
1965 | Beginn einer geplanten Gesamtreform der Sozialversicherungen (Sozialpaket) |
1969 | Neuregelung der Arbeitslosenvermittlung und -versicherung |
1972 | Rentenreform, fortgeführt 1992, 1999 |
1972 | Betriebsverfassungsgesetz |
1974 | Gesetz über Leistungen der Rehabilitation |
1975 | Gesetz zur Sozialversicherung Behinderter |
1975 | Allgemeiner Teil (Erstes Buch) des zusammenfassenden Deutschen Sozialgesetzbuches verabschiedet |
1977 | Gesetz zur Kostendämpfung in der Krankenversicherung |
1981 | Gesetz zur Sozialversicherung der Künstler und Publizisten |
1988 | Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen, fortgeführt 1992, 1996, 1999 |
1994 | Gesetz zur Pflegeversicherung |
2003-2005 | Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes unter der Regierung SCHRÖDER (Agenda 2010) |
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