Demokratien in der EU

Repräsentative Demokratien

Schon 1849 wurden von dem französischen Dichter V. HUGO (1802–1885) die „Vereinigten Staaten von Europa“ in die Debatte gebracht. Der Plan einer Europäischen Union wurde dann als Vertragsentwurf 1984 vom Europäischen Parlament verabschiedet und die einheitliche Europäische Akte 1986 beschlossen; der Vertrag über die Europäische Union trat am 01.11.1993 in Kraft.

Die momentan 27 Mitgliedstaaten der EU (Bild 1) sind repräsentative Demokratien und verfügen bis auf Großbritannien alle über eine geschriebene Verfassung. In der repräsentativen Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volk aus. Der Einfluss des Volkes ist jedoch vorwiegend auf die Beteiligung an Wahlen und die Mitwirkung in Parteien, Verbänden und Initiativen beschränkt. Plebiszitäre Elemente wie in der Schweiz (Volksinitiative, Referendum) sind in den EU-Staaten sehr begrenzt und oft nur auf regionaler Ebene möglich. Um dem Einzelnen das Dasein im souveränen Staat erträglich zu machen, um ihn als Person zu schützen, wird die Macht des Staates durch ein differenziertes Gefüge in Schranken gehalten. Dazu dient das Prinzip der Gewaltenteilung in

  • Exekutive,
  • Legislative und
  • Judikative.

In der Organisation dieser Gewaltenteilung weisen die EU-Staaten Unterschiede auf. Grundsätzlich sind zwei Typen der repräsentativen Demokratie zu unterscheiden:

  1. das parlamentarische Regierungssystem und
  2. das präsidentielle Regierungssystem.

Parlamentarisches Regierungssystem

Im parlamentarischen Regierungssystem wird die Regierung vom Parlament gewählt und muss sich diesem gegenüber verantworten. Im Gegensatz zur klassischen Gewaltenteilungslehre findet im parlamentarischen Regierungssystem eine enge Verschränkung von Legislative und Exekutive statt. Die parlamentarische Kontrolle wird weniger zwischen Exekutive und Legislative, sondern vielmehr im Wechselspiel zwischen (Regierungs-)Mehrheit und Opposition im Parlament selbst ausgeübt. Man spricht deshalb von einer neuen Gewaltenteilung zwischen politischer Führung, Opposition und Rechtsprechung.

Präsidentielles Regierungssystem

Das präsidentielle Regierungssystem wurde erstmals 1788 von den USA eingeführt. In diesem Regierungssystem wird sowohl der Regierungschef (Präsident) als auch das Parlament direkt vom Volk gewählt. Beide sind nur dem Volk gegenüber verantwortlich und daher auch (relativ) unabhängig voneinander. So ist die Amtsdauer des Präsidenten verfassungsrechtlich festgelegt, d. h. er kann vom Parlament nicht abberufen werden; ebenso kann das Parlament nicht vom Präsidenten aufgelöst werden. Regierungsmitglieder dürfen nicht Teil der Legislative sein und sind nur dem Präsidenten gegenüber verantwortlich. Präsidentielle Regierungssysteme entsprechen weitgehend den Ideen der klassischen Gewaltenteilungslehre. Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative muss allerdings bei der Aufgabenerfüllung zumindest teilweise wieder aufgehoben werden.

Geteilte Exekutive

Weder in Westeuropa noch in den postsozialistischen Staaten konnte sich das präsidentielle Regierungssystem durchsetzen. Allerdings sind nicht alle EU-Staaten rein parlamentarische Systeme wie das deutsche, sondern es existieren häufiger Mischformen beider Regierungssysteme.

Allgemein gilt festzustellen, dass außer in Zypern alle EU-Staaten über eine geteilte Exekutive verfügen, d. h. es existiert ein Staatsoberhaupt – entweder ein Monarch oder ein Präsident – und eine vom Parlament gewählte Regierung, an deren Spitze ein Ministerpräsident oder Premierminister steht. Somit gibt es in keinem der EU-Staaten einen Präsidenten, der – wie in den USA – die Ämter des Staatsoberhauptes und Regierungschefs in seiner Person vereint. Um die EU-Staaten genauer einordnen zu können, muss deshalb geklärt werden, wie die Machtverteilung zwischen Staatsoberhaupt und Regierung geregelt ist.

Das Staatsoberhaupt

Von den 27 EU-Staaten bezeichnen sich sieben Länder – Großbritannien, Schweden, Niederlande, Spanien, Dänemark, Luxemburg und Belgien – als parlamentarische Monarchien. In diesen Fällen bekleidet der Monarch das Amt des Staatsoberhaupts. Formell hat der Monarch in einigen dieser Länder beträchtlichen Einfluss, was auf alte Formulierungen in den Verfassungen zurückzuführen ist. In der Praxis sind der Macht des Monarchen allerdings enge Grenzen gesetzt. Die Monarchen der EU erfüllen im Grunde rein symbolische Aufgaben, so dass diese Staaten dem idealtypischen Modell der parlamentarischen Demokratie sehr nahe kommen. In fünf Republiken – Italien, Griechenland Malta, Slowenien und Deutschland – sind die Aufgaben des Staatspräsidenten ebenfalls eher symbolischer Natur. In diesen Staaten wird das Staatsoberhaupt nicht vom Volk gewählt, sondern wie in der tschechischen Republik und Lettland durch das Parlament.

In den 14 übrigen Mitgliedstaaten – Irland, Österreich, Portugal, Finnland, Estland, Litauen, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Zypern und Frankreich – wird das Staatsoberhaupt durch das Volk gewählt, die Amtszeit beträgt zwischen vier und sieben Jahren. Eine herausragende Stellung hat der französische Präsident, der mehrere exekutive Befugnisse besitzt. Somit besteht Frankreich aus einer doppelköpfigen Exekutive, wobei der Präsident gegenüber dem Regierungschef (Premierminister) zumindest faktisch eine dominierende Position einnimmt. Während der Premierminister bei Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik federführend ist, bleibt der Präsident in Außen- und Sicherheitspolitik nahezu unangefochten. Der Präsident kann auch Einfluss auf die Ernennung der Minister nehmen, in der Regel geschieht dies jedoch in enger Abstimmung mit dem Premierminister. Außerdem gesteht die Verfassung dem Präsidenten weiteren Einfluss zu. So kann er sowohl das Parlament auflösen als auch den Notstand ausrufen, wodurch seine Macht verfassungsmäßig unbegrenzt ist. Bisher hat jedoch nur CHARLES DE GAULLE beim Putsch einiger Generale in Algier im April 1961 vom „Notstandsartikel“ Gebrauch gemacht. Mit über 900 Mitarbeitern hat Frankreichs Präsident im Vergleich zu seinen EU-Kollegen auch den größten Personalapparat und bildet damit ein ansehnliches Gegengewicht zur Ministerialbürokratie.

Da in Frankreich der einflussreiche Präsident dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich ist, es aber gleichzeitig auflösen kann, bezeichnet man das französische Regierungssystem als semi-präsidentiell. Die Bezeichnung ist allerdings ungenau, denn sie lässt darauf schließen, es handele sich um ein präsidentielles System mit einem schwachen Präsidenten. Stellt die Partei des französischen Präsidenten jedoch auch die Parlamentsmehrheit, so nimmt er eine erheblich stärkere Stellung ein als der amerikanische Präsident. Hat er allerdings die Parlamentsmehrheit gegen sich (Cohabitation), so funktioniert das französische Regierungssystem eher als parlamentarisches. Deshalb wird gelegentlich auch der Begriff parlamentarisch-präsidentielles Regierungssystem für Frankreichs Staatsform verwendet – ein System, das sich noch einmal deutlich vom präsidentiell-parlamentarischen System in Russland unterscheidet, wo der Präsident die eindeutig dominierende Kraft der Exekutive ist.

Lediglich Litauen lässt sich von den übrigen EU-Staaten noch als Land mit parlamentarisch-präsidentiellem Regierungssystem einordnen. Die Regierungsformen in den übrigen Ländern werden allgemein als parlamentarisch eingestuft, obwohl die Präsidenten teilweise deutlich mehr Einfluss haben als der deutsche Bundespräsident. Das gilt vor allem für einige postsozialistische Staaten, wo die Rolle des Präsidenten durch die Übergangsphase und z. T. herausragende Persönlichkeiten geprägt wurde. So ist beispielsweise im Vorfeld der polnischen Parlamentswahl 1990, die LECH WALESA gewann, die Rolle des Präsidenten in Polen heftig diskutiert worden. Die einen traten für ein parlamentarisches System nach deutschem Vorbild ein, andere favorisierten das französische Modell. Die Kompromisslösung ist ein parlamentarisches System mit einem starken Präsidenten. Er wacht über die Einhaltung internationaler Verträge, kann den Ausnahmezustand verhängen und besitzt ein schwer überwindbares Veto bei der Gesetzgebung. Hier muss die Verfassungspraxis zeigen, welchen Rang der polnische Präsident in Zukunft einnimmt.

Ein beispielloser Fall bleibt die Regierungsform der geteilten Insel Zypern. Ursprünglich verkörperte eine Doppelspitze das Staatsoberhaupt, bestehend aus einem Präsidenten, der vom griechischen Teil gewählt wurde und einem Vizepräsidenten, gewählt vom türkischen Teil. Nach dem Aufbrechen des ethnischen Konflikts bildeten sich jedoch Anfang der 1970er-Jahre zwei eigenständige Systeme. Der zyperntürkische Teil besitzt einen gewählten Präsidenten und einen schwachen Premierminister. Im griechischen System existiert eine geschlossene Exekutive. Der gewählte Präsident übernimmt den Regierungsvorsitz und kann die Minister unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen des Parlaments auswählen. Kernkompetenzen des Präsidenten sind Außen- und Sicherheitspolitik. Doch mit seinem Veto-Recht gegen alle Ministerentscheidungen, erstreckt sich seine Macht über alle Politikbereiche.

Mitgliedstaaten der Europäischen Union

Mitgliedstaaten der Europäischen Union

Die zweite Kammer

In 13 EU-Staaten existiert neben dem Abgeordnetenhaus noch eine zweite Kammer. In Italien, Polen, der tschechischen Republik, Rumänien und zu Teilen in Spanien sowie Belgien wird die zweite Kammer vom Volk gewählt. Die Abgeordneten der übrigen zweiten Kammern werden

  • durch Landesparlamente (Österreich),
  • Vertretungen der Regionen (Niederlande),
  • Wahlmännergremien der Departements (Frankreich) oder
  • durch andere Wahlgremien (Irland, Slowenien)

gewählt.

Eine weltweite Ausnahme macht Deutschland, wo sich der Bundesrat (Bild 2) aus weisungsgebundenen Mitgliedern der Landesregierungen zusammensetzt. Ebenso einzigartig ist das britische House of Lords, dessen Mitglieder nicht demokratisch (durch Wahl) legitimiert sind.
Außer in Italien, wo der Senat dem Abgeordnetenhaus in der Gesetzgebung quasi gleichgestellt ist, sind die zweiten Kammern mit weniger Rechten ausgestattet als die ersten Kammern. In den meisten Fällen besitzen die zweiten Kammern das Recht zur Gesetzesinitiative, machen jedoch kaum Gebrauch davon.
Eine besondere Stellung nimmt die zweite Kammer in den vier föderalen Systemen der EU ein (Deutschland, Österreich, Belgien, Spanien). Hier dient die zweite Kammer dazu, landespolitische Interessen in den bundespolitischen Prozess einzubringen. Dagegen sind der irische Senat und der slowenische Staatsrat korporative Vertretungen, d. h. sie setzen sich aus Vertretern der Gewerkschaften, der Wirtschaft und der Universitäten zusammen. Diese Kammern haben wenig Kompetenzen und ihnen wird in erster Linie eine Stabilisierungsfunktion im politischen Prozess zugerechnet.

Parteiensystem

Über den Beitritt zur EU haben zwar außer Deutschland und Zypern alle Mitgliedstaaten einen Volksentscheid durchgeführt. Dennoch sind direktdemokratische Elemente in den Mitgliedsländern kaum vorhanden und wenn doch, so kommen sie kaum zur Anwendung. Stattdessen sind die EU-Demokratien geprägt durch politische Parteien. Die Zahl der parlamentarischen Parteien ist in Mitgliedstaaten unterschiedlich und hängt stark von den Wahlsystemen ab. Ein Zwei-Parteiensystem hat sich nur in Malta durchgesetzt. Gängig sind Parlamente mit deutlich mehr Parteien. Dies führt mit wenigen Ausnahmen (z. B. Großbritannien) zu Koalitionsregierungen von zwei oder mehreren Parteien. Deutschland ist mit seinen vier bis fünf Parlamentsparteien ein relativ stabiles System, wohingegen beispielsweise in Italien oder einigen osteuropäischen Demokratien die Zahl mehr als doppelt sich hoch liegt.

Gebäude des Bundesrats

Gebäude des Bundesrats

Demokratien der EU - Gebäude des Bundesrats

Europäische Parteien

In Westeuropa haben sich bestimmte Parteienfamilien mit einer gemeinsamen (europäischen) Tradition herausgebildet. Sie sind bei weitem nicht die einzigen Parlamentsparteien und bilden auch nicht das ganze Links-Rechts-Spektrum eines Parteinsystems ab. Für den Universalismus dieser Parteitypen spricht auch, dass sie im europäischen Parlament als staatenübergreifende Fraktionen auftauchen.

Die Sozialdemokratische Partei, die aus der Arbeiterbewegung hervorging, existiert in fast allen Staaten Westeuropas. Sie hat sich ebenso zur Volkspartei entwickelt wie die bürgerliche/ konservative Partei, die sowohl in säkularer Form (z. B. Tories in Großbritannien) als auch in nicht-säkularer Form (z. B. die CDU in Deutschland) auftritt. Beide Parteitypen haben Anpassungsprozesse durchlaufen und stehen sich nicht mehr so unversöhnlich gegenüber wie noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der unter ihnen ausgetragene Hauptkonflikt zwischen Arbeit und Kapital ist zwar abgeschwächt – Sozialdemokraten werden nicht mehr nur von Arbeitern gewählt und bürgerliche Parteien nicht mehr nur von bürgerlichen Wählern –, aber er ist noch immer prägend.
Zwischen diesen zwei Volksparteien hat sich die ebenfalls traditionsreiche liberale Partei positioniert, die wirtschaftspolitisch zwar einen strikteren Marktliberalismus verfolgt als die bürgerliche Partei, in gesellschaftspolitischen Fragen jedoch eine liberalere Position einnimmt (z. B. Schutz der Bürger vor dem Staat: Lauschangriff, Einwanderungspolitik, etc.). Zudem haben sich seit den 1980er-Jahren Die Grünen, mit Ursprung in der Friedens- und Öko-Bewegung, in einigen Staaten als Parlamentspartei behauptet.
Diese vier Parteitypen treten nicht in allen EU-Ländern mit dem selben Erfolg auf und vertreten nicht immer haargenau die selben Positionen. Aber sie haben viele Gemeinsamkeiten und arbeiten im Europaparlament in den folgenden Fraktionen zusammen:

  • EVP-ED: Europäischen Volkspartei/ Europäische (Christ)Demokraten,
  • SPE: Sozialdemokratische Partei Europas,
  • ALDE: Liberale und Demokraten für Europa,
  • Grüne/ EFA: Grüne/ Freie Europäische Allianz.

Die fünfte große Fraktion bildet die Vereinigte Linke:

  • KVEL/NGL: Vereinigte europäische Linke/ Nordische Grüne Linke.

In den postsozialistischen Staaten befinden sich die Parteiensysteme zum Teil noch im Wandel, d. h. Parteien entstehen und verschwinden weit häufiger als in stabilen Systemen. Die Parteiensysteme der osteuropäischen EU-Staaten sind jedoch dabei, sich zu konsolidieren und lassen sich in ein Links-Rechts-Muster einordnen. In den meisten Ländern hat sich eine sozialdemokratische Partei gegründet, teilweise ist sie auch aus der ehemals kommunistischen Staatspartei hervorgegangen (Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien, Bulgarien). Auf der anderen Seite des Spektrums haben sich konservative Parteien entweder zu einer großen Partei oder zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen. Es gibt liberale Parteien, allerdings unterscheiden sich die politischen Positionen oft deutlich von denen der westeuropäischen Liberalen. Die Grünen haben in postsozialistischen Staaten erheblich weniger Zuspruch als im Westen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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