Machtelite

Elitenbegriff im Wandel

Die deutsche Sprache kennt verschiedene Wörter, um die Spitze im Aufbau der Gesellschaft abzugrenzen und zu benennen:

  • Prominenz,
  • herrschende Klasse,
  • Avantgarde,
  • Führungsschicht,
  • Oberschicht,
  • die oberen Zehntausend,
  • politische Führung,
  • Spitzenkräfte,
  • Elite

sprechen verschiedene Facetten einer obersten gesellschaftlichen Gruppierung an. In den Sozialwissenschaften werden jene Personen in der gesellschaftlichen Spitze generell als Elite (lat. Eligere = auswählen) bezeichnet. Da sie über politische und gesellschaftliche Entscheidungsmacht in den Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verfügen, ist die Bezeichnung Machtelite (auch: Machteliten) präziser (Bild 1).

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der sozialwissenschaftliche Sprachgebrauch uneinheitlich. Nachdem sich die NS-Diktatur bis 1945 mit der bevölkerungspolitischen Ideologie einer deutschen Herrenrasse als einer weltweiten Elite selbst gefeiert hatte, verfiel der Elitenbegriff zunächst einem Sprachtabu . Auch gegenwärtig bestehen aus historischen und normativen Erwägungen heraus Vorbehalte gegenüber dem Begriff. Beispielsweise soll nicht von Elite-Universitäten oder Elite-Schulen gesprochen werden, sondern von der Förderung von Spitzenkräften. Elite bedeutet also schnell auch, ungerechtfertigt Privilegien nutzen zu können.
Tatsächlich hat der Ausdruck „Elite“ einen Begriffswandel durchgemacht. Der Begriff ist rund 200 Jahre alt und entstammt dem Französischen, wo er zunächst im Militärwesen verwendet wurde. Die europäische Aufklärungs- und Revolutionszeit veränderte mit der Forderung nach mehr Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit die normativen Grundlagen der politischen Herrschaft. Dies betraf ganz besonders eines der Grundprobleme jeder politischer Herrschaft, die Frage

  • der Auswahl der Herrschenden,
  • ihrer sach- und personenbezogenen Auswahlkriterien,
  • der Befristung,
  • der Auswahlprozedur selbst und
  • ihrer herrschaftstheoretischen Begründung.

Elitenverständnis und Herrschaftsverständnis sind verknüpft.

  • Der ältere Sprachgebrauch bezeichnet mit Elite eine auserlesene Minderheit in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft. Ihr ist in der Regel die politische Führung anvertraut. Sie zeichnet sich durch besondere soziale, sittliche, geistige und politische Qualitäten aus und bildet durch Standeszugehörigkeit, Vermögen oder Bildung eine in sich geschlossene Führungsgruppe. Dieser Elitenbegriff entspricht der Sozial- und Herrschaftsstruktur der vorindustriellen und vordemokratischen Gesellschaft.
     
  • In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die heraufkommende Massengesellschaft Eliten von Massen unterscheiden lassen. Eliten haben mit unterschiedlichen Begründungen einen Führungsauftrag gegenüber den Massen beansprucht. Die italienischen Sozialwissenschaftler GAETANO MOSCA (1858–1941) und VILFREDO PARETO (1848–1923) haben mit ihren Studien dazu beigetragen, die Machtkonzentration bei der kleinen „politischen Klasse“ der zur Führung Talentierten zu begründen, denen gegenüber die Massen Objekt der Führung sind. Die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts bezogen sich vereinfachend auf die Theorien der politischen Klasse, wenn sie behaupteten, dass nur Eliten den Massen den Weg in die Zukunft und im sozialdarwinistisch verstandenen Kampf der Völker weisen können.

Machtelite und Demokratie

Die demokratische Entwicklung in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges spiegelt sich im veränderten Elitenverständnis. Die Bindung an das Begriffspaar Elite-Masse wurde aufgegeben, damit auch die gesellschaftliche Vorstellung von einer trennscharfen Polarität.
Demokratien zeichnen sich durch drei Grundprinzipien aus, die für die Existenz und Auswahl der Machtelite entscheidend sind:

  • Vereinigungsfreiheit der Bürger,
  • regelmäßige allgemeine, freie, gleiche, direkte und geheime Wahlen,
  • öffentliche Meinungs- und Willensbildung.

Die Freiheit, sich zu Interessen- oder Protestgruppen vereinigen zu können, bewirkt unabhängige Machtzentren in der Gesellschaft, auf die die Gruppe der politisch mächtigsten Personen nur begrenzten Einfluss hat. Hinzu kommen konkurrierende Parteien, deren Existenz durch regelmäßige freie Wahlen bedingt ist. Die öffentliche Meinung hält Zustimmung und Absage, Kritik und Kontrolle bereit. Insgesamt gesehen, ist die Machtelite in freiheitlichen Demokratien pluralistisch zusammengesetzt (pluralistische Elite).

Die moderne Gesellschaft ist kaum noch hierarchisch in Großgruppen unterteilt. Sie hat mit der Aufklärung und den Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts die hierarchisch gegliederte korporative Gesellschaft abgelöst. Die sozialen Gruppen sind nicht mehr schroff voneinander abgeschottet. Ihre Mitglieder können sozial auf-, aber auch absteigen. Geblieben ist nur ein grobes Schichtenmodell der Sozialstruktur, das untere von mittleren und oberen Positionen unterscheidet.

Die Gliederung der modernen Gesellschaft ist in ständiger Bewegung, verursacht durch Änderungen der Produktionsweisen, der Arbeits- und Freizeitwelten. Die Beschreibung einer Gesellschaft nach den „sozialen Orten“ der Bevölkerungsgruppen hat deshalb an Bedeutung verloren. Unterschieden wird stattdessen vorzugsweise nach den Funktionen, die einzelne Gesellschaftsbereiche typischerweise im Gesamtsystem eines Landes erfüllen. Aus den Führungsgruppen der verschiedenen Bereiche setzt sich die Machtelite zusammen. Auf den Soziologen RALF DAHRENDORF (1929–2009) geht die verbreitete Einteilung der Gesellschaftsbereiche und entsprechend der Teileliten zurück (1965):

  • Politik und öffentliche Verwaltung,
  • Wirtschaft,
  • Wissenschaft und Bildung,
  • Kirchen,
  • Kultur und Freizeitindustrie,
  • Justiz,
  • Militär.

Mit Blick auf ihre Funktionen für das Gesamtsystem werden sie Funktionseliten genannt. Zur Teilnahme an der Führung ist der Einzelne in einer freiheitlichen Gesellschaft dank seiner „beruflich-fachliche Fähigkeiten und seiner Leistungen“ berechtigt, so der Elitenforscher OTTO STAMMER 1955.

Politische Elite

Die Funktion der Politik in der Demokratie ist es, gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen über die Verteilung begehrter Werte und Güter zu treffen und praktisch durchzusetzen. Aufbau und Ablauf der Politik in Parteien, Parlamenten, Regierungen und öffentlicher Verwaltung sind in starkem Maße institutionalisiert. Dadurch ist die politische Elite über die Art und Zahl der Berufspositionen in den Institutionen gut abgrenzbar. Sie umfasst

  • die Politiker in Parteien, Parlamenten und Regierungen (enge Fassung der Elite) sowie
     
  • höhere Beamte, höhere Richter, führende Experten aus Wirtschaft und Gesellschaft (weite Fassung).

Personen außerhalb dieser Institutionen, die nicht zu einer anderen Funktionselite gehören, haben dauerhaft wenig Einfluss. Wohl aber stehen Teileliten im Austausch und beeinflussen sich gegenseitig.

Die politische Elite hat ein sehr breites Spektrum von Bevölkerungsinteressen zu repräsentieren, die sich in entsprechend vielfältigen öffentlichen Meinungsäußerungen niederschlagen. Zugleich unterliegen ihre Mitglieder der ständigen Kontrolle durch ihre eigene Organisation, den Parteien, Fraktionen oder Verbänden. Andererseits haben Eliten die Tendenz, sich vom Druck ihrer Basis möglichst zu befreien, um den eigenen Entscheidungsraum zu vergrößern. Auch in der Demokratie existiert deshalb ein Spannungsverhältnis zwischen der Elite und ihrer Basis.

Wie pluralistisch die politische Elite ist, wie offen, zugänglich und unterschiedlich zusammengesetzt, lässt sich nur im konkreten Fall darstellen. Die sozialwissenschaftliche Elitenforschung in Deutschland orientiert sich an fünf Fragestellungen:

  • Was sind die Merkmale der Personalauswahl (Rekrutierung) und der Karrierewege?
     
  • In welchem Maß repräsentieren sie die Interessen der Nicht-Eliten?
     
  • In welchem Maß werden demokratische Einstellungen und Orientierungen vertreten?
     
  • Was sind die Merkmale der Kontakt- und Kommunikationsmuster innerhalb der Elite bzw. zwischen Teileliten?
     
  • Welches ist die spezifische Rolle der politischen Elite innerhalb der Machtelite und des Gesamtsystems des Landes?

Die Elitenforschung wurde besonders durch Untersuchungen von DAVID RIESMAN (1909–2002, „Die einsame Masse“, 1958) und CHARLES WRIGHT MILLS (1916–1962, „Die amerikanische Elite“, 1962) beeinflusst.

  • Nach RIESMAN bilden etablierte gesellschaftliche Gruppen in den USA ein pluralistisches Gegeneinander von Veto-Gruppen, die jeweils Entscheidungen gegen ihre Interessen durch ein Veto blockieren können. Daraus folge eine unübersichtliche und unstrukturierte Macht- und Regierungslage.
     
  • Demgegenüber konstatierte MILLS eine hochgradige Konzentration der Macht bei Konzernchefs, hohen Militärs und Spitzenpolitikern. Aus den drei Bereichen habe sich eine relativ geschlossene Machtelite als politische Klasse mit Klassenbewusstsein, gemeinsamen Interessen und engen sozialen Bindungen ergeben.

In Deutschland folgte aus der Kriegsniederlage und dem Diktaturende 1945 ein Austausch der politischen Elite, der in den Besatzungszonen unterschiedlich akzentuiert war:

  • In der sowjetischen Besatzungszone ging es bald um den Aufbau einer homogenen einheitlichen sowjetsozialistischen Parteielite, die alle Führungsmacht bei sich konzentrierte (monopolistische Elite).
     
  • In den westlichen Besatzungszonen gelangten Vertreter verschiedener politischer und gesellschaftlicher Denkströmungen und Interessensgruppen in politische Spitzenpositionen. Ihre Auswahl und Karrieren unterlagen dem Einfluss von regelmäßigen freien Wahlen, der öffentlichen Meinung sowie der Konkurrenz der Parteien und Interessenorganisationen (pluralistische Elite).

Merkmale der Machtelite

Mit den Methoden der Befragung, des Interviews und der statistisch-soziologischen Analyse entstanden umfängliche Elitenuntersuchungen (Mannheimer Elitenstudie, 1981; Potsdamer Elitenstudie, 1995). Aus ihnen ergeben sich einzelne Merkmale der Machtelite:

  • Ihre Auswahl ist relativ offen. Nur wenige Spitzenpositionen werden „vererbt“, die meisten besetzen soziale Aufsteiger. Die Karrierechancen sind jedoch nicht gleich, da in der Bevölkerung vor allem Bildungschancen ungleich verteilt sind.
     
  • Die Eliten rekrutieren sich überproportional aus den sozial und beruflich besser situierten oberen Schichten. Der Aufstieg in die Elite wird umso schwieriger, desto tiefer die soziale Herkunft im Gesellschaftsaufbau verortet ist.
     
  • Die Machtelite ist weder „Leisure-class der feinen Leute“ (THORSTEIN VEBLEN, 1857–1929) noch abgehobene politische Klasse im Sinne MILLS, sondern aus Funktionseliten zusammengesetzt, die unter starkem Arbeitsdruck stehen.
     
  • Da Elitenkarrieren überwiegend innerhalb der Funktionsbereiche und nicht über Stationen, wie bestimmte Universitäten laufen, die alle Funktionseliten gemeinsam nutzen, ist der soziale Zusammenhang der Elite nicht besonders ausgeprägt (schwacher Elitenhabitus).
     
  • Eliten unterhalten soziale Kontakte innerhalb und zwischen den Funktionsbereichen sowie mit Außenstehenden. Die Elitenforscherin URSULA HOFFMANN-LANGE ermittelte für die Bundesrepublik 1981 ein Elitennetzwerk, in dem 1 230 Personen mit Ausnahme der Militär- und Kulturelite verbunden waren. Etwas dichtere Beziehungen wies ein „Zentraler Zirkel“ von 559 Personen auf („Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik“, 1992, S. 379). Der Einfluss auf gesamtgesellschaftlich bedeutsame Entscheidungen ist damit – auch im Vergleich etwa zu den USA – recht breit gestreut.
     
  • Die politische Elite nimmt die zentrale Position in der Machtstruktur ein. Ihr Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung ist durch Ausbau des Sozialstaats erheblich gestiegen, damit zugleich ihre moderierende Rolle unter Funktionseliten und Bevölkerungsgruppen. Zusammen mit der Wirtschaftselite bildet sie das Machtzentrum der Bundesrepublik, ergänzt durch einflussreiche Personen der Medien und der öffentlichen Verwaltung.
Nach GEISSLER setzen sich Machteliten aus neun sektoralen Eliten zusammen, die in den folgenden Sektoren wichtige Entscheidungsträger sind: Politik, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Gewerkschaften, Massenmedien, Kultur, Wissenschaft und Militär.

Nach GEISSLER setzen sich Machteliten aus neun sektoralen Eliten zusammen, die in den folgenden Sektoren wichtige Entscheidungsträger sind: Politik, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Gewerkschaften, Massenmedien, Kultur, Wissenschaft und Militär.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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