Als besondere poetische Verdichtung muss die Chiffre immer zuerst entziffert werden.
Allerdings gibt es sehr hermetische Gedichte (von hermetisch = fest verschlossen), deren Chiffren sich nicht so leicht oder aber gar nicht entziffern lassen.
Beispiele:
„Welle der Nacht – zwei Muscheln miterkoren,
die Fluten strömen sie, die Felsen her,
dann Diadem und Purpur mitverloren,
die weiße Perle rollt zurück ins Meer.“
(GOTTFRIED BENN: Welle der Nacht)
Mit folgenden Worten beginnt „Die Todesfuge“ von PAUL CELAN:
„Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken“
In ELSE LASKER SCHÜLERs Gedicht „Mein blaues Klavier“ heißt es:
„Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte“
INGEBORG BACHMANN war eine Meisterin der Chiffre:
„Aufs Rad der Nacht geflochten
schlafen die Verlorenen ...“
schlägt es melancholisch aus ihrem Gedicht „Paris“.
Alle diese Chiffren haben gemeinsam, dass sie sehr bildhaft sind, allerdings für mehr als nur ihre Wörter stehen. Ihr eigentlicher Sinn bleibt im Dunklen. Die Fantasie des Lesers muss die Chiffren im Kopf zu eigenen Bildern umdeuten, decodieren.