Der König und sein Narr

MARTIN STADEs „Der König und sein Narr“ ist ein historischer Roman um den Gelehrten JACOB PAUL GUNDLING und die Demütigungen, die er durch den preußischen König FRIEDRICH WILHELM I., den „Soldatenkönig“, erfährt. Am preußischen Hof war GUNDLING als Kommerzienrat, königlicher Zeitungsvorleser, Hofrat, Kammerherr und Zeremonienmeister engagiert.

Inhaltsangabe

Todkrank bewohnt Gundling ein Zimmer im Potsdamer Schloss. Der König hat ihm dorthin ein Weinfass bringen lassen, seinen Sarg. Gundlings Lebensraum ist auf sein unmittelbares Blickfeld geschrumpft. Er sieht sich am Ende eines Lebens, das er als verfehlt betrachtet. Die Gründe hierfür versucht er autobiografisch aufzuarbeiten. Das letzte Buch seines Lebens, die Autobiografie, wird nicht geschrieben: er will es nur „denken“.

Seine Reflexion beginnt mit dem Tod des preußischen Königs Friedrich I. 1713. Der bevorstehende Thronwechsel stürzt Gundling in massive Existenzangst. Bis dahin hatte er eine sichere Anstellung beim Oberheroldsamt des Königs.

Illusion von der Macht

Das Oberheroldsamt als königliche Behörde versteht Gundling als einen objektiv machtfernen, dem proklamierten Selbstverständnis dieser Macht nach aber gararantierten Bereich. Hierin sieht er die Entsprechung seines aufgeklärten Selbstverständnisses, der Illusion, und glaubt durch persönliche und räumliche Nähe zur Macht und vernünftige Annerkenung ihrer Ansprüche auf die Leitung des Staates einwirken zu können. Die zu erwartende unmittelbare Bedrohung seiner scheinbar konsolidierten Lebensverhältnisse drückt sich für Gundling darin aus, dass Friedrich Wilhelm I. seine „Verborgenheit“ in diesem weitgehend verantwortungsfreien geistigen Raum nicht mehr duldet.

Die radikale Akzentverschiebung der Interessen des Hofs und seine Entlassung zwingen Gundling nach Wegen der Anpassung zu suchen.

Sekretär Creutz

Er sucht Hilfe in einem Gespräch mit dem Geheimschreiber des Königs, dem Sekretär Creutz, für den der Umbruch an der Spitze des preußischen Staates einen Aufschwung seiner Entwicklung bedeutet.Creutz ist in jeder Beziehung das Gegenbild Gundlings. Er steht dem idealistischen Visionär als egoistischer Zyniker gegenüber. Des Königs Umordnung der Finanzen in den militärischen Bereich, die ihm Creutz bestätigt, begreift Gundling als Teil der Vorbereitung für die inneren Auseinandersetzungen Friedrich Wilhelms I. mit dem hohen preußischen Adel um die absolute Macht im Lande.

Die beabsichtigte Straffung der Ausgaben könnte Gundling, der einige Aufsätze über Staatsfinanzen verfasst hatte, dem König als Experten empfehlen. Nach dem Gespräch mit Creutz verfasst er eine Bittschrift an den Friedrich Wilhelm I. Während er aus dem Fenster seiner Mansarde auf das nächtliche Berlin schaut, begreift er seine Situation als kollektive Katastrophe der preußischen Intellektuellen.

Die zufällige Erwähnung seines Namens in einem Gespräch, das der König mit Dankelmann, einem altgedienten, unter Friedrich I. in Ungnade gefallenen Diplomaten über die Neuordnung der Staatsangelegenheiten führt, bewirkt schließlich die ersehnte Wendung. Friedrich Wilhelm hält die Sanierung des Handels und der Staatsfinanzen – der „Commerzien“ für den preußischen Staat für grundlegend. Dankelmann empfiehlt ihm eine diesbezügliche Schrift Gundlings, der daraufhin anderntags zum Kommerzienrat ernannt wird, „beauftragt, Handel und Wandel in den Landstädten zu untersuchen und dem König davon Nachricht zu geben.“

Er hat 300 Taler Gehalt und eine Kutsche zum dienstlichen Gebrauch. Ein Jahr später, im Mai 1713, verursacht der Kommerzienrat Gundling den ersten Eklat: Auf einer Inspektionsreise hatte ihn die Intoleranz der orthodoxen lutherischen Geistlichkeit, ihr Neid auf den durch Gewerbefleiß erworbenen Wohlstand der reformierten und hugenottischen Bevölkerung derart empört, dass er anonym eine atheistische Schrift auf die Kanzel der St. Katharinenkirche legte. Die Empörung der geistlichen und weltlichen Obrigkeit wird auch Friedrich Wilhelm I. vorgetragen. Als Gundling ihm mit schlechtem Gewissen das Ergebnis seiner Inspektion berichtet, lässt der missmutige König nicht erkennen, ob er von seiner Urheberschaft weiß. Er lädt ihn stattdessen zu einem Gespräch über Religionsangelegenheiten ins Tabakskollegium ein. Nach außen sollte diese Versammlung als regelmäßige informelle Zusammenkunft seiner Minister und Offiziere verstanden werden, bei Vernachlässigung der Standes- und Rangunterschiede, in Wahrheit diente es der möglichst lautstarken Kompensation öffentlich und privat angestauter Frustration, der Besprechung und internen Bewertung neuester Nachrichten und anstehender Staatsangelegenheiten. Die aufgesetzte Vertraulichkeit des Kreises, in dem sich der König mit „Herr Oberst“ anreden ließ, verführte zu einer Offenheit des Gesprächs, die manchem Gast teuer zu stehen kam. Dies machte die Runde vor allem ganz zwanglos zum Ohr und Auge des Königs für die unterschwelligen Fehler und die wahren Triebkräfte des Verhaltens seiner Untergebenen. Sichtbar werdende Schwächen der Gäste oder Mitglieder des Tabakskollegiums wurden zur umfassenden Denunziation der jeweiligen Person breit ausgewalzt. Die persönliche Persiflage war nicht nur am preußischen Hof, sondern offensichtlich auch im Alltagsverhalten im frühen 18. Jahrhunderts ein Teil der öffentlichen Umgangsformen. Das Tabakskollegium bot solche Persiflagen auf engstem Raum unter einer begrenzten Anzahl von Personen in konzentrierter und beschleunigter Form; dies ermöglicht es, den vollständigen „Handel“ zu studieren, der sich aus künstlich geschürtem Zwist und Unzufriedenheit entwickeln konnte.

Lieblingsspielzeug der Versammlung

Gundling erweist sich bald als Lieblingsspielzeug der Versammlung. Er begegnet dem Narren des Königs, einem Zwerg, der den Titel „Ritter von Hahnenfuß“ führt. Böse Vorahnungen für sein Schicksal befallen ihn. Dem Narren gelingt es, ihn zu provozieren. Nach einer Prügelei der beiden streift man Gundling das Narrengewand über; er wird zum „Ritter von Hahnefuß“ geschlagen und ist nun selbst der „Narr“ des Königs. Das Schlimmste für ihn ist, dass damit die Seriosität seiner öffentlichen Funktion zunehmend konterkarriert wird. Mit seiner Ernennung zum Hofrat wechselt er vom Berater des Königs faktisch in dessen Gefolge. Kritik an Auswüchsen in Handel und Staatsverwaltung kann er nicht mehr üben, weil sie in den direkten Angriffen seiner Gegner zwangsläufig auf ihn selbst zurückfällt.

Flucht nach Halle und Rückkehr

Er flüchtet nach Halle, wo sein Bruder an der Universität die Professur für Philosophie bekleidet. Dieser hält ihm seine Naivität vor. Eigene Bedenken über die Unsicherheit seiner weiteren Existenz veranlassen ihn schließlich, an den preußischen Hof zurückzukehren. In Wusterhausen konfrontiert der preußische König seinen „lustigen Rat“ zunächst mit seinem Urteil und den daraus für Gundling erwachsenden Konsequenzen, wirft ihm Fahnenflucht vor und droht mit dem Kriegsgericht. Und es gelingt ihm, den labilen und zur Selbstüberschätzung neigenden Intellektuellen damit zu brechen. Der gealterte, todkranke Mann wird später auf seinem Totenbett sinnieren, sich vorzuhalten dem König nach dem Munde geredet zu haben. Er ist ein anpasslerischer Intellektueller geworden.

Tabakkollegium

An den Sitzungen des Tabakskollegiums und den Belustigungen des Hofes muss er weiter als Gegenstand des Spottes teilnehmen.
Alles was im Preußen Friedrich Wilhelms I. Rang und Namen hat ist dort zu Gast. Wir lernen die einflußreichen Manufakturisten und Bankiers kennen:

  • Johann Andreas Kraut, den Gründer und Eigentümer der Königlichen Wollmanufaktur in Berlin;
  • den jüdischen Rüstungslieferanten Moses Levin Gomperts und
  • den hugenottischen Hofbankier Maillete de Boy.

In den Gesprächen und Anekdoten, die ihre Anwesenheit anregt, klingt die unglaubliche Roheit der preußischen Gesetzgebung an und die Brutalität, mit der Friedrich Wilhelm I. seine politischen und ökonomischen Interessen durchzusetzen sucht.

Je weniger Achtung man ihm erweist, desto höher steigt der „Narr“ des Königs: Er wird Kanonikus des Stifts von Halberstadt und Geheimer Rat. Friedrich Wilhelm I. ist unfähig seine Forderungen an Gundling an dessen Fähigkeiten zu begrenzen. Er hört von ihm von den ersten Versuchen zur Nutzung der Dampfkraft. Gundling kann ihm deren Wirkung auf die Mechanisierung des Handwerks begreiflich machen, muss aber den Wunsch des Königs, ihm solche Maschinen zu bauen, ablehnen. Der König erklärt hierauf Gundlings Beratung für überflüssig und befiehlt ihm anderntags an der Jagd teilzunehmen, das habe zumindest einen gewissen Nutzen.

Erneute Flucht

Dies endet für ihn wiederum in der Katastrophe und veranlaßt ihn erneut zur Flucht.
Über ein Jahr ist er unterwegs: Im erzkatholischen Breslau kann er keine Anstellung finden, weil es ihm als aufgeklärtem Atheisten unmöglich ist, einen Glauben anzunehmen. Die Ahnung, einem verfehlten Lebensentwurf zu folgen, verdichtet sich zur Gewißheit.

Leipzig

In Leipzig ist er mit seinen geistigen Wurzeln konfrontiert, der aufgeklärten, kritischen Vernunft und damit zugleich mit der Alternative, ein unstetes Leben in Armut aber persönlicher Integrität zu führen. Das wird ihm vor dem Wohnhaus Christian Reuters und nach der Begegnung mit Johann Christian Günther bewusst: Beide starben „allen gelassen und vergessen“, „irgendwo versunken“. Mittellos muss Gundling sich nach Halle wenden, von wo er von preußischen Soldaten nach Berlin entführt wird.

Schwanengesang

Was nun folgt ist gleichsam der Schwanengesang, den sein grausamer Herr seinem Narren bereitet: 1724 wird er in den erblichen Freiherrnstand erhoben, zwei Jahre später Kammerherr des Königs; sein vom König ausgefertigtes Adelspatent ist eine unverschämte Persiflage seines tragischen Irrtums, beratend auf die absolute Macht einwirken zu wollen. In keinem seiner Ämter hat Gundling den mindesten Einfluss auf die Geschicke Preußens; der Einfluss, den er hat, wirkt ausschließlich auf die Person des Königs, so, wenn dieser ihn als einzigen Berater zur Ausarbeitung seines Politischen Testamens hinzuzieht. Diese Königsnähe zieht ihm, als er Präsident der Akademie der Wissenschaften wird, den öffentlichen Vorwurf zu, an der Vertreibung Christian Wolffs, dessen rationalistischer Determinismus dem König staatsgefährdend schien, beteiligt gewesen zu sein. Gundlings Position am Hof hat seinen öffentlichen Ruf in der preußischen Gelehrtenrepublik zerstört. Um ihm die Ambivalenz seiner Wertschätzung zu verdeutlichen, hatte der König Gundling zum Generalbeauftragten für die Seidenwürmer in Preußen gemacht.

Durch eine Prügelei im Tabakskollegium wird er schließlich so schwer verletzt, dass er sich nicht wieder erholt. Die Handlung des Romans hat ihren Rahmen eingeholt. Auf seinem Sterbebett resümiert Gundling sein Leben. Er würde nur einer von vielen in den kommenden Jahrhunderten sein, die sich das Rückgrat haben brechen lassen.

Der Roman und die Kulturpolitik der DDR

MARTIN STADEs Roman „Der König und sein Narr“ ist zuerst 1975 in der DDR erschienen, in einer für den Autor schwierigen Phase seiner schriftstellerischen Entwicklung.

Gescheitertes Projekt: „Berliner Geschichten“

In Zusammenarbeit mit den offiziellen Instanzen der DDR-Kulturpolitik, dem Ministerium für Kultur, den SED-Funktionären im Schriftstellerverband der DDR und den staatlich kontrollierten Medien war es dem Ministerium für Staatssicherheit in jenem Jahr gelungen, das wichtigste Projekt der unabhängigen Literatur in der DDR der Siebzigerjahre zunichte zu machen, die Anthologie „Berliner Geschichten“.
Ihre Herausgeber, KLAUS SCHLESINGER, ULRICH PLENZDORF und MARTIN STADE hatten 1974 interessierte Schriftsteller dazu aufgerufen, sich mit Beiträgen zum Thema Berlin an der Erarbeitung einer Anthologie zu beteiligen, deren Redaktion und Lektorierung bis zum fertigen Manuskript die beteiligten Autoren in kollegialer Zusammenarbeit selbst übernehmen sollten. Es war der Versuch, die ideologischen Filter durch die staatliche Zensur zu umgehen, die in der DDR ein Bestandteil des Verlagswesens selbst waren.
Die Stasi begann sofort, das Projekt durch Ausübung von persönlichem Druck auf das „Redaktionskollegium“, SCHLESINGER, PLENZDORF und STADE, sowie durch gezielte Desinformation aller Beteiligten über eingeschleuste IM zu unterlaufen und einen „Differenzierungsprozess“ von zersetzender Wirkung in Gang zu setzen. Das Entstehen einer unabhängigen Autorenedition wurde vereitelt; aus literaturgeschichtlicher Sicht ein schwerer Rückschlag für die Entwicklung der DDR-Literatur.

Parabel

So wird der Sinn des Romans „Der König und sein Narr“ als Parabel für die problematische Situation des kritischen Intellektuellen gegenüber einer sich selbst absolut setzenden Macht noch deutlicher, einer Macht, die sich zudem mit diesem Anspruch in der Kunst und in der Kultur repräsentiert sehen will. Der Schluss des Romans, an dem Gundling in seiner Vision einen ganzen Zug von Menschen sieht, weist auf das Ergebnis jeder Art von Anpassung an solche Verhältnisse hin.
Die Technik der Parabel, ausgeführt in der historischen Analogie, hat MARTIN STADE in seinen historischen Romanen immer wieder brillant zur Gesellschaftskritik geformt.

Rezeption

„Der König und sein Narr“ hat in der DDR allein bis 1987 acht Auflagen erlebt; der Roman ist 1980 von FRANK BEYER und ULRICH PLENZDORF mit WOLFGANG KIELING und GÖTZ GEORGE in den Hauptrollen von der Ufa, im Auftrag des SFB, verfilmt worden. BEYER hat den Stoff nach dem Drehbuch von PLENZDORF noch einmal zum Preußenjahr 2001 am Hans-Otto-Theater in Potsdam inszeniert.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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