Der Expressionismus ist eine Sammelbezeichnung für vielfältige Strömungen einer neuen, Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Ausdruckskunst. 1910 als Genrebegriff in der Malerei geprägt, wurde er bald auch auf andere Kunstgattungen – Musik und Literatur – übertragen. Die Expressionisten verstanden sich als Gegenbewegung zu Naturalismus, Symbolismus, Impressionismus und Realismus. Den größten Einfluss übte die expressionistische Kunst in Deutschland aus. Doch auch in England hinterließ sie Spuren.
Die expressionistische Bewegung setzte mit der Gründung der Künstlergruppen Die Brücke in Dresden (1905) und Der Blaue Reiter in München (1911) ein, denen prominente Maler wie ERNST LUDWIG KIRCHNER, WASSILY KANDINSKY, EMIL NOLDE und PAULA MODERSOHN-BECKER angehörten. Diese Künstler wandten sich vom Impressionismus und den geltenden akademischen Regeln ab. Ihre Malweise integrierte Elemente der primitiven Kunst und schuf einen plakativen, flächenbetonenden Stil mit stark kontrastierenden, unvermischten Farben. Neben der Malerei stellte die Druckgrafik ein wichtiges Ausdrucksmittel expressionistischer Kunst dar.
Um 1918/19 griff der Ausdruck „Expressionismus“ auch auf die Musik über und bezeichnete die atonale Musik ARNOLD SCHÖNBERGS, der diese Etikettierung jedoch ablehnte. Auch Werke von SCHÖNBERGS Schülern ANTON WEBERN und ALBAN BERG sowie Kompositionen von ALEKSANDR SKRJABIN, BÉLA BARTÓK und IGOR STRAWINSKY wurden zum musikalischen Expressionismus gezählt. Diese Musik zeichnete sich durch Dissonanzen, freie Formen und ins Extreme gesteigerte Klänge aus. Im Mittelpunkt stand die Selbstverwirklichung des Künstlers. Ähnlich wie in der Malerei und Literatur versuchte man, innere und unbewusste Vorgänge darzustellen.
Der literarische Expressionismus suchte die Verbindung mit anderen Künsten. ERNST BARLACH wirkte als Bildhauer, Grafiker und Dichter, der Maler OSKAR KOKOSCHKA zugleich als Lyriker. Nicht zuletzt deshalb ist der literarische Expressionismus durch eine besondere Vielfalt an Ausdrucksformen gekennzeichnet. Die Grenzen zwischen dem Frühexpressionismus und dem Impressionismus sind fließend.
Die jungen expressionistischen Autoren einte das Bestreben, sich radikal vom Lebensgefühl des wilhelminischen Reiches zu lösen. Gegen die Industrialisierung, Bürokratisierung und Verstädterung setzten sie den individuellen Ausdruck, die Intensität und Unmittelbarkeit des Handelns. Anfänglich lag der Schwerpunkt des literarischen Expressionismus auf der Lyrik, deren wichtigste Vertreter GOTTFRIED BENN, GEORG HEYM und ELSE LASKER-SCHÜLER sind. In ihren Gedichten nehmen die Isolation des Einzelnen, das urbane Leben und die Erfahrung von Krieg und Tod großen Raum ein. Durch den expressiven Stil, der in Worthäufungen, gewagten Neologismen und Satzgestaltungen das innere Erleben betont, werden die konventionellen lyrischen Formen gesprengt, um Visionen, Träume und Ekstase darzustellen (AUGUST STRAMM). Lyriker wie ERNST STADLER und FRANZ WERFEL brechen die strenge Sonett-Form durch die Verwendung neuer Inhalte auf.
Nach 1914 ist eine starke Politisierung der Literatur zu beobachten, die sich insbesondere in den Dramen niederschlägt. Sie greifen gesellschaftskritische Themen auf, indem sie sich gegen die Autorität in Familie und Staat auflehnen. Beispiele hierfür sind GEORG KAISERS Gas I (1918) oder ERNST TOLLERS Masse Mensch (1921). Angst, Hass oder Liebe werden oft personifiziert und als Figuren auf der Bühne dargestellt. Es entsteht das Stationendrama, das ohne kontinuierlichen Handlungsablauf einzelne, in sich geschlossene Szenen präsentiert. Traum, Fantasie, Märchenwelt und Realität werden bruchlos im Erleben des Protagonisten verschmolzen. Ausgedehnte Monologe, lyrisch-hymnische Einlagen, Tanz und Pantomime treten als weitere Stilmittel des expressionistischen Dramas hinzu.
Die erzählende Literatur des Expressionismus ist vor allem durch die kleine Form – Erzählungen und Prosaskizzen – geprägt, wie sie von GOTTFRIED BENN und CARL STERNHEIM geschaffen wurden. ROBERT WIENES Film Das Kabinett des Dr. Caligari (1919) gilt als Inbegriff des expressionistischen Kinos.
In England finden sich Auswirkungen des Expressionismus in den Lehrstücken von WYSTAN HUGH AUDEN und CHRISTOHER ISHERWOOD (The Dog Beneath the Skin, 1935). Auch im Film werden Elemente des Expressionismus aufgenommen, so zum Beispiel in der Verfilmung von GRAHAM GREENES Roman The Third Man durch CAROL REED (1949).
Obwohl die expressionistische Phase relativ kurz war, wirkte sie nachhaltig auf zahlreiche Autoren des 20. Jahrhunderts, die in ihren Werken die neu geschaffenen Formen und Darstellungsmittel aufgriffen. So finden sich in den Dramen EUGENE O'NEILLS naturalistische, expressionistische und symbolistische Stilformen. Maßgeblich hat der Expressionismus zur Entwicklung der freien Form des modernen Theaters beigetragen.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
Ein Angebot von