Die Eisenbahnbilder von Turner und Menzel

Die Entwicklung der Dampfeisenbahn

1825 wurde die erste Personeneisenbahn gebaut. Sie verkehrte zwischen Stockton und Darlington in England. Ein Jahrzehnt später folgte Deutschland: hier fuhr der erste von einer Dampflokomotive angetriebene Personenzug 1835 zwischen Nürnberg und Fürth. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, welche Veränderungen die Eisenbahn für Gütertransporte und Reiseverkehr mit sich brachte.

Die Durchschnittsgeschwindigkeit der frühen Eisenbahnen in England betrug 20 bis 30 Meilen – das ist ungefähr drei Mal so schnell wie das Tempo der bis dahin eingesetzten Postkutschen. Es bedeutete zeitliche Verkürzung und Schrumpfung der Entfernungen – vom viel komfortableren Transport und den Veränderungen der Landschaft ganz zu schweigen.

Sofort geriet das neue Transportmittel auf die Siegerstraße: Schon 1850 betrug die Länge des Schienennetzes auf der Erde fast 38 600 km und nahm in den folgenden Jahren explosionsartig zu. 1880 waren es bereits 372 500 km, also rund das Zehnfache.

Die Eisenbahn als Bildmotiv

Die Eisenbahn und die Bahnreise waren zwar rasch populär geworden, aber die Künstler brauchten Jahre, ehe sie die Bahn als lohnendes und interessantes Bildmotiv entdeckten. Zwar gab es viele Darstellungen, die als lithografierte Flugblätter oder teils auch als kolorierte Kupferstiche in Umlauf waren, aber das waren sehr einfache, oft unbeholfene und wenig gekonnte Wiedergaben. In ihnen wurde die Sensation Eisenbahn als Faktum dargestellt und darum meist in der Ansicht von der Seite. So konnte man genau erkennen, wie so ein Zug aussah und woraus er zusammengesetzt war: vorn die Lokomotive, dann in langer Reihe die Waggons mit den Passagieren. Aber von der Faszination dieser Maschinerie, vom rasselnden Lärm, vom Puffen der Lok, dem Zischen des Dampfes und vor allem vom rasenden Rollen der Räder und von der schwungvollen Dynamik des Zuges zeigten diese Blätter nichts.

Die Eisenbahnbilder von W. TURNER und A. VON MENZEL

1844 und 1847 aber entstanden zwei Gemälde, in denen es um dieses bisher Vernachlässigte ging: um das neue Tempo in der Landschaft. Die beiden Bilder sind die ersten ernst zu nehmen Eisenbahnbilder und sie gehören zu den gelungensten.

Das erste stammt von dem Engländer WILLIAM TURNER (1775–1851), das zweite von dem Berliner ADOLPH VON MENZEL (1815–1905). Sie zeigen beide Variationen einer Darstellungsidee: ein Zug kommt aus der Tiefe des Raumes auf uns zu, rollt dann knapp an uns vorbei und verschwindet aus dem Bild.

Bei TURNER vermittelt das Gemälde „Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway“ („Regen, Dampf, Geschwindigkeit – Die Great Western Eisenbahn“) eine stark mit Atmosphäre aufgeladene Szenerie mit wabernden Nebeln, ziehenden Wolken, in Regenschauern verschwimmender Landschaft, mit aus den Nebeln auftauchenden Brücken, einem träge ziehenden Fluss und einer kaum erkennbaren Stadt im Hintergrund links. Aber genau aus der Mitte kommt uns ein Zug entgegen und zieht eine pfeilgerade Spur von dieser Mitte schräg hinunter in die rechte Bildecke. Und auf dieser Spur rollt eine Lokomotive, Dampfwölkchen ausstoßend, mit angehängten Waggons auf uns zu, um dann knapp an uns vorbeizurasseln.

Für die Dynamik dieser völlig asymmetrischen Komposition ist wohl jeder empfänglich und für den schroffen Gegensatz zwischen dem wallenden Gewölk und der mit energischem Schub aus ihm hervor schießenden Maschine ebenso.
TURNER, der leidenschaftlich gern mit der Eisenbahn reiste, soll den Anstoß zu dieser Bildidee bei der Begegnung zweier sich entgegenkommender Züge erhalten haben, als er gerade aus dem Abteilfenster schaute und vom Tempo der aufeinander zu rasenden Lokomotiven beeindruckt war. Dieses Bild malte er dann in seinem Atelier aus.

WILLIAM TURNER: „Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway“(„Regen, Dampf, Geschwindigkeit – Die Great Western Eisenbahn“);1844, Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm;London, National Gallery.

WILLIAM TURNER: „Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway“(„Regen, Dampf, Geschwindigkeit – Die Great Western Eisenbahn“);1844, Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm;London, National Gallery.

Eisenbahnbilder von Turner und Menzel - Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway

Auch MENZELs Bild „Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahn“ bietet eine aus der Tiefe auf uns zu rollende Bahn. Aber bei ihm geschieht das nicht in schnurgerader Linie und wie ein Stoß, sondern in weitem Bogen, der hinten links in der Ferne vom Stadtrand ausgeht, dann weit nach rechts bis in die Nähe des Bildrandes auskurvt, um dann nach links unten, und wie sich beschleunigend, gleich aus dem Bild hinaus zu fahren. Das Ganze gesehen von erhöhtem Standpunkt oberhalb der Gleise, die hier einen Hügel durchschneiden, von dessen oberen Rand aus der Künstler auf diese Gegend blickt.

ADOLPH VON MENZEL: „Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahn“;1847, Öl auf Leinwand, 42 x 52 cm;Berlin, Alte Nationalgalerie.

ADOLPH VON MENZEL: „Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahn“;1847, Öl auf Leinwand, 42 x 52 cm;Berlin, Alte Nationalgalerie.

Turners und Menzels Eisenbahnbilder - Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahn

Auch bei TURNER sehen wir aus halber Vogelperspektive auf die Landschaft, doch wo unser Standpunkt sein soll, das bleibt unklar; wir schweben wie hoch über dem Fluss halb neben der Brücke.

Und wieder anders als TURNER spielt MENZEL eben nicht den Gegensatz aus zwischen dem stählern-kantigen Dampfross und der durchregneten Landschaft, sondern er nimmt die Umgebung als einen nicht atmosphärisch, sondern als gegenständlichen Zusammenhang wahr: Er verzeichnet in der Ferne die Silhouette von Berlin mit den Türmen der beiden Kirchen am Gendarmenmarkt, mit dem öden Feld- und Gartenland des Stadtrands, mit kreuzenden Feldwegen, mit einem Gehöft im Schatten einer Baumgruppe und mit Gräsern und Unkraut am Bahndamm.

TURNERs Gemälde misst 91 x 122 cm (= 1,11 m²) und ist damit fünf Mal größer als das von MENZEL (42 x 52 cm = 0,22 m²), auch ist es durch seine Größe ein repräsentatives Galeriebild, das denn auch – und noch im Jahr der Entstehung – in der Londoner Royal Academy ausgestellt wurde.

MENZELs Bildchen aber verschwand in der Privatsammlung eines seiner Freunde, der in Potsdam wohnte und den der Künstler dort oft mit der Berlin-Potsdamer-Bahn besuchte. Denn auch MENZEL war ein leidenschaftlicher Bahnfahrer.

TURNERs Gemälde ist sichtlich ein geduldig durchgearbeitetes Atelierbild – es mag flüchtig erscheinen, doch sind die Farbnuancen in behutsamer Feinarbeit sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Nebelschleier, die Regenschauer, die Wolkenzüge, das Wasser des Flusses – alles ist auf eine intensive Suggestion des Atmosphärischen gerichtet.

MENZELs Bild dagegen ist als Skizze offensichtlich vor Ort entstanden, man kann seinen Standpunkt noch heute ungefähr bestimmen. Er liegt in der Nähe der S-Bahnstation „Großgörschen“ in Berlin-Schöneberg. Damals war die Gegend noch unbebaut, das ist sie längst nicht mehr.

MENZEL sah also eine Situation – Turner hatte eine Vision.

Die Titelgebung der Bilder

Die unterschiedliche Herangehensweise kommt auch in den Bildtiteln zum Ausdruck.

  • TURNER: „Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway“ (Regen, Dampf, Geschwindigkeit – Die Great Western Eisenbahn).
  • MENZEL: „Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahn“.

TURNER nennt in seinem Titel, wenn auch erst an zweiter Stelle, den Namen der Eisenbahnlinie; dadurch lässt sich das Bild geographisch einigermaßen bestimmen. Aber die drei ersten Titelwörter sprechen etwas ganz anderes – und das sehr rhythmisch – an: neben der Natur (die nur als Regen vorkommt) das Pathos der neuen Zeit, des Zeitalters von Dampf(maschinen) und Geschwindigkeit.

MENZEL bleibt daneben nüchtern, sachlich, feststellend, ohne Pathos: „Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahn“, so wie sie MENZEL beobachtet hat.

Kürzer gesagt: MENZEL malt den von ihm gesehenen Zusammenhang der Wirklichkeit – angesichts dieser Wirklichkeit. TURNER malt eine Vision – im Atelier.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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