Zur Geschichte des euklidischen Parallelenaxioms

Das Parallelenaxiom

Das sogenannte Parallelenaxiom besagt etwa das Folgende:

  • Zu jeder Geraden g und jedem nicht auf der Geraden liegenden Punkt P gibt es in der Ebene genau eine Gerade h, die durch P geht und zu h parallel ist.

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Dieses Axiom findet sich bereits bei EUKLID VON ALEXANDRIA (etwa 365 bis etwa 300 v.Chr.) in dessen Hauptwerk „Die Elemente“. Hierin legt EUKLID einen systematischen Aufbau der Geometrie vor, indem er diese streng auf Definitionen und Postulate gründet. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die „Elemente“ das mit Abstand erfolgreichste mathematische Werk der Weltgeschichte wurden und über 2000 Jahre lang Grundlage jeglicher Mathematikausbildung waren.

Im Buch I der „Elemente“ folgen auf die Definition solcher Begriffe wie Punkt, Linie (Gerade), Fläche (Ebene) fünf Postulate (postulatio lat. svw. Forderung). Während die ersten drei Postulate Aussagen zur Konstruktion geometrischer Gebilde ausschließlich mit Zirkel und Lineal machen, legt das vierte fest, dass alle rechten Winkel gleich sind. Daran schließt sich als fünftes jenes Postulat an, das als Parallelenpostulat berühmt wurde. In seiner ursprünglichen Fassung behauptet es, dass ...

„... wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass wenn auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins Unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.“

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Dieses Postulat wurde schon im Altertum viel diskutiert, da es sich durch seine Länge und seine Kompliziertheit deutlich von den anderen Axiomen EUKLIDS unterscheidet. Insbesondere war man der Meinung, dass es sich aus den anderen Postulaten (Axiomen) herleiten ließe und somit für den Aufbau der euklidischen Geometrie entbehrlich sein könne.

Erste Versuche diesbezüglich gab es bereits in der Antike, u.a. durch PTOLEMAIOS (etwa 85 bis 165), und sie fanden letztlich eine erfolglose Fortsetzung bis ins 17. und 18. Jahrhundert. Wichtigstes Ergebnis all dieser Untersuchungen war, dass man im Bestreben, das euklidische Parallelenaxiom durch andere zu ersetzen, auf zu diesem äquivalente Axiome stieß. Solche wurden unter anderem vom englischen Philosophen und Mathematiker JOHN WALLIS (1616 bis 1703), vom italienischen Mathematiker GIROLAMO SACCHERI (1667 bis 1733), vom französischen Mathematiker A. M. LEGENDRE (1752 bis 1833) sowie auch von CARL FRIEDRICH GAUSS (1777 bis 1855) gefunden.

Zum Parallelenaxiom äquivalente Aussagen sind beispielsweise die folgenden:

  • Zu jeder ebenen Figur gibt es eine ähnliche Figur beliebigen Flächeninhalts.
  • Die Winkelsumme im Dreieck ist gleich zwei Rechten.
  • Stufenwinkel an Parallelen sind zueinander kongruent.
  • Durch drei nicht aus einer Geraden liegende Punkte gibt es einen Kreis.

Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien

Zum Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass das Parallelenaxiom nicht aus den anderen Axiomen EUKLIDS ableitbar und damit für den Aufbau der euklidischen Geometrie unverzichtbar ist.

Gewissermaßen folgerichtig war in diesem Zusammenhang ein zweiter Schritt – der Versuch, Geometrien aufzubauen, die auf einer dem Parallelenaxiom widersprüchlichen Annahme (seiner Negation) beruhen.

Einer der Ersten, die diesen Schritt taten, war GAUSS. Ausgehend davon, dass es zu einer Geraden und einem nicht auf ihr gelegenen Punkt mehr als eine Parallele gibt, kam er zu einer „neuen“ widerspruchsfreien Geometrie. Allerdings scheute er eine Veröffentlichung seines Ergebnisses, angeblich wegen des vermeintlichen „Geschreis der Böoter“.

So sollte es zwei anderen Mathematikern vorbehalten bleiben, unabhängig voneinander eine nichteuklidische Geometrie zu entwickeln und damit ein über 2000 Jahre altes Problem zu lösen – dem Russen NIKOLAI IWANOWITSCH LOBATSCHEWSKI (1793 bis 1856) sowie dem Ungarn JANOS (JOHANN) BOLYAI (1802 bis 1860). Beide gingen – wie auch zuvor GAUSS – davon aus, dass es zu einer Geraden und einem Punkt mehr als eine Parallele gibt. Als Ergebnis erhielten sie die sogenannten hyperbolische Geometrie (auch lobatschewskische Geometrie genannt).

Bereits in einem 1823 fertiggestellten Manuskript für ein Lehrbuch der Geometrie (das allerdings erst 1909 gedruckt wurde) wich LOBATSCHEWSKI stark vom Aufbau in den „Elementen“ ab. So fasste er in den ersten fünf Kapiteln all diejenigen Aussagen zusammen, die ohne Verwendung des Parallelenpostulats hergeleitet werden konnten, und erst im sechsten folgten jene, zu deren Beweis das Parallelenaxiom erforderlich war (wobei es sich vor allem um Aussagen zur Messung des Flächeninhalts ebener Figuren handelte).

LOBATSCHEWSKI hatte erkannt, dass das euklidische Parallelenpostulat eine Ausnahmestellung besaß und dass alle Versuche, es zu beweisen, letztlich scheitern mussten.

In einem 1826 gehaltenen Vortrag skizzierte er dann den Aufbau einer Geometrie, die von der obengenannten Negation des euklidischen Parallelenpostulats ausging und die er „imaginäre“ Geometrie nannte. Obwohl seine Gedanken von vielen nicht verstanden wurden und deshalb auch kaum Anerkennung fanden, arbeitete LOBATSCHEWSKI eine vollständige Darstellung „seiner“ Geometrie aus, die kurz vor seinem Tode in russischer und französischer Sprache erschien. Sie trug den Titel „Pangeometrie“, was so viel wie allgemeine Geometrie bedeutet und daraus resultiert, dass man die euklidische Geometrie als Grenzfall der lobatschewskischen betrachten kann.

Der Ungar JANOS BOLYAI, Sohn des mit C. F. GAUSS seit der gemeinsamen Studienzeit befreundeten Mathematikers FARKAS (WOLFGANG) BOLYAI (1775 bis 1856), beschäftigte sich ebenfalls intensiv mit dem Parallelenproblem, obwohl ihm sein Vater dringend davon abgeraten hatte. Etwa im Jahre 1825 schuf JANOS BOLYAI die Grundlagen der nichteuklidischen Geometrie, an der er sechs Jahre arbeitete. Allerdings veröffentlichte er seine Ergebnisse im Jahre 1837 nur in der Anlage eines Werkes seines Vaters. So kam es, dass die Leistungen JANOS BOLYAIS zu dessen Lebzeiten keine Würdigung fanden, obwohl sie unter anderen auch GAUSS durch entsprechende Briefwechsel seit längerem bekannt waren. BOLYAI selbst war sogar der Meinung, dass GAUSS seine Ideen LOBATSCHEWSKI mitgeteilt habe könne.

Später wurde auch der aus der Negation des Parallelenaxioms zweite mögliche Fall untersucht, dass es zu einer gegebenen Gerade g und einem Punkt P keine zu g parallele Gerade durch P gibt. Dies führte zu einer weiteren nichteuklidischen Geometrie, die als elliptische Geometrie bezeichnet wird. Sie wurde maßgeblich von BERNHARD RIEMANN (1826 bis 1866) entwickelt, der sie auch auf höhere Dimensionen ausdehnte.

Nichteuklidische Geometrien sind in sich widerspruchsfrei, wobei sie allerdings keine Geometrien im Sinne unserer praktischen Erfahrungen im dreidimensionalen Anschauungsraum sind. Als zunächst reine mathematische Theorien erlangten sie mittlerweile jedoch eine große Bedeutung sowohl in der theoretischen Physik als auch in der Kosmologie.

Speziell gehört es heute zu den aktuellen Fragen der Physik, welche der Geometrien das Universum im Großen am besten beschreibt. Ist es also elliptisch (sphärisch), euklidisch (eben) oder hyperbolisch?

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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