Georg Simmel

Kindheit und Jugend

Der deutsche Soziologe und Philosoph GEORG SIMMEL wurde am 1. März 1858 an der „Ecke der Leipziger- und Friedrichstraße“ in Berlin geboren. Sein Vater, der aus Breslau stammende und zum Katholizismus konvertierte jüdische Fabrikant EDWARD SIMMEL, war Gründer und Mitinhaber der Schokoladenfabrik „Felix und Sarotti“, seine Mutter, FLORA SIMMEL, geb. BODENSTEIN, war Tochter aus jüdischem Hause, die zum Protestantismus konvertierte. GEORG war das jüngste von sieben Kindern.
1870–1876 besuchte der Knabe das Friedrich-Werder-Gymnasium in Berlin. 1874 starb der Vater, konnte seine Familie jedoch finanziell gut absichern. Zum Vormund des Jungen wurde der Begründer und Inhaber der Musikedition Peters JULIUS FRIEDLÄNDER bestimmt.

Wissenschaftlicher Werdegang

Von 1876 bis 1881 studierte GEORG SIMMEL an der Berliner Universität Geschichte bei THEODOR MOMMSEN (1817–1903) und Philosophie u. a. bei EDUARD ZELLER (1814–1908), dann auch Völkerpsychologie bei MORITZ LAZARUS (1824–1903) und HEYMANN STEINTHAL (1823–1899) sowie Kunstgeschichte, und promovierte 1881 mit der Arbeit „Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie“, die im Rahmen eines Wettbewerbs prämiert worden war. Seine ursprüngliche Arbeit war wegen einiger Formfehler von seinem Lehrer ZELLER und dem Physiker HERMANN VON HELMHOLTZ (1821–1894) abgelehnt worden.
1885 habilitierte SIMMEL mit den „Kantischen Studien“ und war danach Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin. Seine Antrittsvorlesung lautete: „Über das Verhältnis des ethischen Ideals zu dem logischen und dem ästhetischen“.

1890 heiratete SIMMEL die Kunstmalerin, Publizistin und Schriftstellerin GERTRUD KINEL, die unter dem Pseudonym MARIE LUISE ENCKENDORFF veröffentlichte. SIMMELs Haus in Berlin wurde zu einem Treffpunkt für die geistigen Größen des Fin de Siècle (franz.: „Ende des Jahrhunderts“). Die Dichter RAINER MARIA RILKE (1875–1926) und STEFAN GEORGE (1868–1933), die Philosophen EDMUND HUSSERL (1859–1938), HEINRICH RICKERT (1863–1936) und MAX WEBER sowie dessen Frau MARIANNE (1870–1954) und der Maler REINHOLD (1857–1922) und seine Frau und Künstlerkollegin SABINE LEPSIUS (1864–1942) gehörten zu den Gästen.
Ein Jahr nach der Hochzeit wurde das einzige Kind der SIMMELs, HANS EUGEN SIMMEL (1891–1943) geboren.

Erste Vorlesungen in Berlin

SIMMELs Vorlesungen an der Universität wurden, wegen der rhetorischen Brillanz des Dozenten, zu wahren Events, alle wollten den ungewöhnlich begabten jungen Mann hören:

„Simmels Vorlesungen über Probleme der Logik, Ethik, Ästhetik, Religionssoziologie, Sozialpsychologie und Soziologie wurden zum Teil wie kulturelle Ereignisse gefeiert, in den Tageszeitungen angekündigt und bisweilen sogar rezensiert. Sein Auditorium setzte sich, von vielen Kollegen spöttisch vermerkt, aus vielen Ausländern, geistig interessierten Nichtakademikern, Studenten aller Fakultäten und vor allem zahlreichen Frauen zusammen. Übereinstimmend berichten ehemalige Hörer von der faszinierenden Vortragsweise Simmels, von seiner Fähigkeit, den Gedankengängen beinahe physische Substanz zu verleihen und die behandelten Gegenstände vor dem geistigen Auge der Anwesenden entstehen zu lassen, statt, wie viele seiner Kollegen, fertige, scheinbar unwiderlegbare Ergebnisse aneinanderzureihen“ (P. E. SCHNABEL, 1976).

Allerdings zeigte sich an seinem späteren Leben, dass er durchaus auch Neider und Feinde neben sich hatte, deren antisemitische Mäntelchen kaum verborgen blieben: Erst der zweite Antrag auf ein Extraordinariat wurde 1902 angenommen und erst 1914 erhielt SIMMEL eine ordentliche Professur.

„Philosophie des Geldes“

Mit der Arbeit „Über soziale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen“ begründete SIMMEL 1890 die Sozialpsychologie als selbstständige Wissenschaft, deren Programm er in „Das Problem der Soziologie“ 1894 entwarf. 1900 erschien das Hauptwerk SIMMELs, die Philosophie des Geldes eine gesellschaftstheoretische Abhandlung über das vordergründig den Wirtschaftswissenschaften zugehörige Thema Geld. Er entwarf ein Bild der modernen kapitalistischen Gesellschaft der Jahrhundertwende, indem er vom Gegenstand des Geldes ausging und über den „Stil des Lebens“ zum „Begriff der Kultur“ – „zum Allgemeinsten“ – fand. Damit begründete SIMMEL seinen Ruf als der Essayist des Impressionismus. Wie seinen Schriftstellerkollegen STEFAN GEORGE und RAINER MARIA RILKE wurde ihm diese Herangehensweise als Ästhetizismus vorgeworfen.
Mit dem Titel seines Buches weckte er Erwartungshaltungen, deren Erfüllung er jedoch bereits in seinem Vorwort ablehnt: „Keine Zeile dieser Untersuchungen ist nationalökonomisch gemeint“ (SIMMEL).
Vielmehr fasste SIMMEL das Geld als „substanzgewordene Sozialfunktionen“ auf. Ganz im späteren Sinne LUHMANNs wird so „alles wirtschaftliche Handeln ... soziales Handeln, daher ist alle Wirtschaft immer auch Vollzug der Gesellschaft“ (LUHMANN, 1988).

SIMMELs Programm einer „soziologischen Ästhetik“

Seit 1896, mit dem Werk Soziologische Ästhetik beschäftigte sich SIMMEL auch mit ästhetischen und kunsttheoretischen Fragen:

„Das Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung liegt für uns darin, dass in dem Einzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Äußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten.“

Zwar stünde am Anfang aller ästhetischen Motive die Symmetrie, der Mensch suche jedoch das Irrationale und seine äußere Form, das Unsymmetrische.
So interessiert SIMMEL am Ästhetischen vor allem die Organisation der Gesellschaft als ästhetisches Gebilde. Selbst

„die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische“.

Er stellt eine individualistische Gesellschaft gegen die sozialistische, folgert, dass sozialistische Gesellschaften die Symmetrie suchten, während individualistische

„ein unruhiges, sozusagen unebenes Bild (zeigten), ihre Wahrnehmung ... fortwährend neue Innervationen (fordere), ihr Verständnis neue Anstrengung“.

Damit gestatteten letztere „mehr Raum für frei und weit ausgreifende Beziehungen“.
Für SIMMELs Ästhetik ist der individualistische Ansatz der wichtigere. So interessieren ihn die Figuren REMBRANDTs oder NIETZSCHEs deshalb, weil sie die „am entschieden individualistischsten“ Weltanschauungen besessen haben.
Aus diesen Voraussetzungen heraus schrieb SIMMEL auch seine Betrachtungen über

  • JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1906, 1912, 1913, 1914), auch ein Individualist, sowie über
  • „MICHELANGELO als Dichter“ (1889),
  • REMBRANDT VAN RIJN (1916),
  • STEFAN GEORGE (1901) und
  • FRIEDRICH NIETZSCHE (1896, 1902, 1906).

„Großstädte und das Geistesleben“

Seit 1901 lehrte SIMMEL als außerordentlicher Professor in Berlin.
Seine Studie von 1903 Die Großstädte und das Geistesleben legte die Psychologie des Großstädters bloß. SIMMEL orientierte sich an der stürmischen Entwicklung seiner Heimatstadt Berlin als Industriestandort. Er konstatierte nicht nur die sozialen Folgen der Urbanisierung des Gemeinwesens Berlin, sondern beschrieb auch das Lebensgefühl in dieser Metropole der Moderne. Die Großstadt schaffe die

„psychologischen Bedingungen ..., (eine) Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“

Es ist das Tempo der Großstadt, das den Soziologen interessiert, der

„Gang über die Straße, (das) Tempo und (es sind die) Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens“.

Daraus schließt er auf den „intellektualistische(n) Charakter des großstädtischen Seelenlebens“. Er folgert, dass der Großstädter den Verstand entwickeln müsse, um seiner Entwurzelung zu entgehen. Produzent und Konsument gehen eine Beziehung „unbarmherzige(r) Sachlichkeit“ ein. Insgesamt würden die zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr versachlicht werden. Daher rühre die Entfremdung der Großstädter, da sie nur noch das Geld, den „Generalnenner aller Werte“, zum Gegenwert haben:

„das Geld fragt nur nach dem, was ihnen allen gemeinsam ist, nach dem Tauschwert, der alle Qualität und Eigenart auf die Frage nach dem bloßen Wieviel nivelliert“.

Zudem bekommt die Zeit in der Großstadt eine ihr bisher nie zugestandene Rolle:

„Wenn alle Uhren in Berlin plötzlich in verschiedener Richtung falschgehen würden, auch nur um den Spielraum einer Stunde, so wäre sein ganzes wirtschaftliches und sonstiges Verkehrsleben auf lange hinaus zerrüttet.“

Eine dritte Dimension des Großstadtlebens stelle die Industrialisierung, die Technik, dar. Sie ordne sich dem Zeitschema der Großstadt unter. Der anonymisierte Mensch wird in der Großstadt Teil des Getriebes, er entfremdet sich selbst. SIMMEL konnte den Puls der Großstadt so genau beschreiben, weil er in ihr lebte. So ließ er seine Erfahrungen in die Untersuchung einfließen.
Die Gedanken, die SIMMEL hier und auch in anderen Schriften äußerte, wurden zwar im deutschen Naturalismus erstmals geäußert, die zeitgenössischen Impressionisten, mit denen er Umgang pflegte (GEORGE, RILKE), verdrängten sie jedoch (für sie galt vielmehr: „l'art pour l'art“), die Expressionisten nahmen sich des Themas an, was sie sahen, war aber nur „Weltende“ (ELSE LASKER-SCHÜLER, JAKOB VAN HODDIS). Erst die Schriftsteller der Neuen Sachlichkeit, unter ihnen ALFRED DÖBLIN mit „Berlin Alexanderplatz“ (1929) und ERICH KÄSTNER mit „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1931) griffen sie wieder auf, indem sie – wie SIMMEL – beschrieben, was sie sahen.

Der SIMMEL-Schüler und Expressionist THEODOR LESSING (1872–1933) beschrieb das, was auch sein Lehrer gesehen haben musste, so:

„Schreiende Lichtreklamen prahlten von einer Schmutzwelt großstädtischer Lustorgien. Bahnen rasselten! Omnibusse keuchten vorüber. Und die Geschäftswagen stauten sich in den vier einander kreuzenden Straßenzügen, deren glatte Trottoire allabendlich das giftig grüne Gaslicht aus hundert Laternen zurückwarfen. Und statt der Englein holdem Halleluja aus blauen Lüften hörte man Tag und Nacht einer furchtbaren Menschenmasse wahnsinniges Getöse. Pflastertreter, Hochstapler, Demimonde, aller Abschaum Europas strömte just an diesem Hause entlang, der Hölle gleich, von der die heilige
Theresa die Definition gibt: 'Dies ist der Ort, wo es stinkt und man nicht liebt.' Der kleine Georg aber schlief in der geräuschvollsten Wiege, die wohl je einen Philosophen gewiegt hatte“
(LESSING, 1914).

Aber nicht schon im von LESSING beschriebenen Geburtsjahr SIMMELs, 1858, sah Berlin Omnibusse und Leuchtreklamen, sondern erst fünfzig Jahre später.

Späte Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen

Als die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg 1908 eine Professur mit SIMMEL besetzen wollte, für die sich auch der Freund aus Berliner Tagen, MAX WEBER, einsetzte, lehnte Karlsruhe ab. Es zeigte sich, dass der Berliner Historiker DIETRICH SCHÄFER (1845–1929) den Soziologen und Philosophen in einem Gutachten als „Israelit durch und durch“ verunglimpft hatte, wovon sich die Kanzlei in Karlsruhe beeinflussen ließ. Zudem hatte SCHÄFER der Soziologie den Rang als Wissenschaft abgestritten.

Gemeinsam mit MAX WEBER (1864–1920) und dem Volkswirt und Soziologen WERNER SOMBART (1863–1941), dem späteren Präsidenten der DGS FERDINAND TÖNNIES (1855–1936) u. a. begründete SIMMEL 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS).

1911 verlieh die Fakultät für Staatswissenschaften der Freiburger Universität SIMMEL die Ehrendoktorwürde. Erst 1914 erhielt er eine ordentliche Professur an der Straßburger Universität. 1917 setzte er sich in „Der Krieg und die geistigen Entscheidungen“ mit dem Ersten Weltkrieg auseinander. Darin kam er noch einmal auf sein altes Thema zurück, das des Geldes, denn er hoffte, der Krieg werde „die Anbetung des Geldes und des Geldwertes der Dinge“ ein für alle mal überwinden.

GEORG SIMMEL starb am 26. September 1918 in Straßburg an Leberkrebs. Seine Frau, MARIE LUISE ENCKENDORFF (d. i. GERTRUD SIMMEL, 1864–1938) überlebte ihn um 20 Jahre.

Hauptwerke

  • Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1908
  • Philosophie des Geldes, 1900
  • Die Religion, 1912
  • Philosophische Kultur, 1919
  • Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, 1917

Kleinere Schriften

  • Die Verwandtenehe, 1894
  • Der Militarismus und die Stellung der Frauen, 1894
  • Zur Soziologie der Familie, 1895
  • Ueber eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie, 1895
  • Alpenreisen, 1895
  • Böcklins Landschaften, 1895
  • Zur Psychologie der Mode, 1895
  • Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette, 1896
  • Was ist uns Kant?, 1896
  • Soziologische Aesthetik, 1896
  • Skizze einer Willenstheorie, 1896
  • Zur Soziologie der Religion, 1898
  • Ueber Geiz, Verschwendung und Armut, 1899
  • Zu einer Theorie des Pessimismus, 1900
  • Sozialismus und Pessimismus, 1900
  • Persönliche und sachliche Kultur, 1900
  • Die beiden Formen des Individualismus, 1901
  • Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie, 1901
  • Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion, 1901
  • Aesthetik der Schwere, 1901
  • Die ästhetische Bedeutung des Gesichts, 1901
  • Zum Verständnis Nietzsches, 1902
  • Vom Heil der Seele, 1902
  • Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch, 1902
  • Die Großstädte und das Geistesleben, 1903
  • Soziologie der Konkurrenz, 1903
  • Die Lehre Kants von Pflicht und Glück, 1903
  • Die ästhetische Quantität, 1903
  • Die Gegensätze des Lebens und der Religion, 1904
  • Ueber die dritte Dimension in der Kunst, 1906
  • Nietzsche und Kant, 1906
  • Kant und Goethe, 1906
  • Kant und Schopenhauer, 1906
  • Das Christentum und Die Kunst, 1907
  • Religiöse Grundgedanken und moderne Wissenschaft, 1909
  • Goethe und die Frauen, 1912
  • Goethe und die Jugend, 1914
  • Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, 1916

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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