Menschen- und Grundrechte in der EU

Grund- und Menschenrechtsschutz in der EU

Die Gründungsverträge zu den Europäischen Gemeinschaften und der EU enthalten bisher keinen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtskatalog. Ein nahezu ebenbürtiger Grundrechtsschutz besteht dennoch. Er beruht überwiegend auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der seit über 30 Jahren Grundrechte aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) herleitet. Diese Praxis wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 in Art. 6  Abs. 2 EUV vertraglich festgeschrieben:

„Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“.

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats (einer internationalen Organisation) kann als eine Art Mindeststandard für die Gemeinschaften betrachtet werden. Sie errichtet mit ihrem Katalog fundamentaler bürgerlicher und politischer Rechte, den Zusatzprotokollen und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg das wohl fortschrittlichste System zum Schutz der Menschenrechte. Die Konvention sichert u. a. das Recht auf Leben, den Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, den Schutz des Privat- und Familienlebens und der Korrespondenz, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf friedliche Vereinigung und friedlichen Zusammenschluss. Durch Protokolle wurden weitere Rechte hinzugefügt und u. a. auch die Abschaffung der Todesstrafe garantiert (Protokoll Nr. 6). Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben die EMRK ratifiziert. Die EU selbst ist ihr bisher nicht beigetreten. Der Europäische Gerichtshof zieht die EMRK als Rechtserkenntnisquelle heran, um autonom die Gemeinschaftsgrundrechte zu entwickeln. An die Rechtsprechung des EGMR fühlt sich der EuGH nicht gebunden.

Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten werden in der Regel als Maximalstandard für den Grundrechtsschutz in der EU angesehen. Dem liegt die Formel des EuGH in der Rechtsache „Nold“ zugrunde, er könne

„keine Maßnahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Rechten“.

Im Einzelfall prüft der EuGH, ob eine konkrete Maßnahme mit einem Grundrecht eines Mitgliedstaats unvereinbar ist.

Eine wichtige Orientierung sind auch die Programmsätze

  • der Europäischen Sozialcharta von 1961 und
  • die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989.

Die Europäische Sozialcharta (ESC) verpflichtet die Vertragsstaaten zu gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Maßnahmen im Bereich des Erwerbslebens und der sozialen Sicherheit. Auch wenn sie keine wirklichen Sanktionsmaßnahmen im Falle einer Vertragsverletzung vorsieht, verpflichtet sie doch die Unterzeichnerstaaten, alle zwei Jahre einen Bericht an den Sachverständigenausschuss abzuliefern, der daraufhin Verletzungen feststellt und Vorschläge für Änderungen unterbreitet. Dadurch hat die ESC einen beachtlichen Einfluss auf die Gesetzgebung der Signatarstaaten erzielt. Die EU selbst ist nicht Vertragspartei der ESC. Der EuGH hat aber in seiner Rechtsprechung schon mehrfach auf die ESC Bezug genommen.
Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer ist lediglich eine feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten (außer des Vereinigten Königreichs). Sie spiegelt aber gemeinsame Ansichten, Traditionen und Grundprinzipien der Mitgliedstaaten wider, an die sich die EU und ihre Mitgliedstaaten halten wollen. Sie enthält u. a. Rechte zu den Themen Freizügigkeit, Beschäftigung und Arbeitsentgelt, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, sozialer Schutz, Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, Kinder- und Jugendschutz. Die Bedeutung der beiden Chartas wird seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) ausdrücklich in der Präambel des Unionsvertrags anerkannt.

Die Gründungsverträge enthalten schließlich selbst noch einige grundrechtsähnliche Verbürgungen. Diese finden sich zunächst in den vier „Grundfreiheiten“:

  1. dem freien Warenverkehr,
  2. dem freien Personenverkehr,
  3. dem freien Dienstleistungsverkehr und
  4. dem freien Kapitalverkehr.

Sie enthalten nicht nur eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sondern können auch unmittelbare Rechte und Pflichten von Individuen begründen. So kann jeder EU-Bürger gegen im Einzelfall unverhältnismäßige Beschränkungen, wie z. B. der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit, gerichtlich vorgehen. Dies gilt auch für eine Verletzung der so genannten „Nichtdiskriminierungsklauseln“, die einen besonderen Aspekt des Gleichbehandlungsgrundsatzes gewährleisten. Dies betrifft z. B. das Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV), oder den Grundsatz der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 141 EGV).

Der EuGH hat auf dieser Grundlage in seiner langjährigen Rechtsprechung eine breite Palette von Gemeinschaftsgrundrechten anerkannt und im konkreten Einzelfall angewandt. Dies gilt insbesondere für die Rechte auf:

  • Menschenwürde,
  • Achtung der Privatsphäre,
  • Unverletzlichkeit der Wohnung,
  • das Briefgeheimnis,
  • Religionsfreiheit,
  • Vereinigungsfreiheit,
  • Handelsfreiheit,
  • Berufsfreiheit,
  • Eigentum,
  • das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts,
  • den Gleichheitsgrundsatz,
  • Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit,
  • das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen und auf den Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und auf einen fairen Prozess.

Das Bundesverfassungsgericht hat anerkannt, dass dieser Grundrechtsschutz dem Grundgesetz im Wesentlichen gleichwertig ist.

Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EU

Der EuGH nahm erst Ende der sechziger Jahre seine Grundrechtssprechung auf. 1969 erklärte sich der EuGH erstmals für zuständig, die Grundrechte zu schützen, die er im Wege der wertenden Rechtsvergleichung aus den Verfassungen seiner Mitgliedstaaten ableitete. Er erkannte an, dass der Einzelne sich gegenüber Akten der Gemeinschaft auf Grundrechte berufen könne.
Die Zuständigkeit des EuGH zur Grundrechtssprechung wurde vom Europäischen Rat, vom Europäischen Parlament (EP) und von der Europäischen Kommission in ihrer gemeinsamen Erklärung zum Grundrechtsschutz vom 05.04.1977 ausdrücklich anerkannt. Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission bemühten sich in der Folgezeit weiter darum, den Grundrechtsschutz in der EU zu stärken. Das Europäische Parlament legte 1984 den Entwurf einer Europäischen Verfassung vor und verabschiedete 1989 einen umfassenden Grundrechtskatalog, die trotz der Bemühungen der Parlamentarier keine Relevanz erlangen konnten. Die Europäische Kommission schlug 1979 und 1990 erfolglos den Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK vor.
Erst mit dem Vertrag von Maastricht wurde 1992 die Verpflichtung der EU zur Achtung der Grundrechte unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die EMRK in Art. 6 Abs. 2 EUV vertraglich festgeschrieben. Damit wurde die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten bestätigt.
Die vom EuGH entwickelten Grundrechte erschließen sich jedoch nur über die einschlägige Fachliteratur oder die Durchsicht sämtlicher Entscheidungen des EuGH. So ist es für den einzelnen Unionsbürger schwierig, seine Grundrechte überhaupt zu kennen. Dieser Mangel an Transparenz und Rechtsklarheit für die Bürger ist der Grund, weshalb immer wieder ein festgeschriebener Grundrechtskatalog für die EU gefordert wurde.

Am 4. Juni 1999 beschloss der Europäische Rat in Köln auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft die Ausarbeitung einer Grundrechtecharta. Der Europäische Rat von Tampere vom 15./16. Oktober 1999 legte dann die Zusammensetzung eines Gremiums zur Ausarbeitung der Charta sowie das Verfahren fest. Das Gremium setzte sich wie folgt zusammen:

  • 15 Beauftragte der nationalen Regierungen,
  • ein Beauftragter des Präsidenten der EU-Kommission,
  • 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments,
  • 30 Mitglieder der nationalen Parlamente (zwei pro Mitgliedstaat).

Dazu kamen zwei Beobachter des Europäischen Gerichtshofs und zwei des Europarats, darunter einer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es wurde festgelegt, dass der Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Ausschuss der Regionen und der Europäische Bürgerbeauftragte zu hören seien, und ein Gedankenaustausch mit den Beitrittsländern stattfinden sollte. Das Gremium konnte sonstige Gremien, gesellschaftliche Gruppen oder Sachverständige hören. Die Sitzungen und Dokumente sollten grundsätzlich der Öffentlichkeit zugänglich sein. Das gesamte Verfahren war bis dato in der Geschichte der Union beispiellos und ein scharfer Gegensatz zu den Regierungskonferenzen hinter verschlossenen Türen. Das Gremium trat am 17.12.1999 erstmals zusammen und wählte den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten und Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, ROMAN HERZOG, zu seinem Vorsitzenden. Zunächst vom Europäischen Rat von Tampere als „Gremium“ bezeichnet, benannten sich dessen Mitglieder selbst in „Konvent“ um. Innerhalb von neun Monaten erarbeitete der Konvent den Entwurf einer Charta der Grundrechte der EU“.

Mit der Grundrechtecharta gelang es erstmals, die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die bislang in verschiedenen nationalen und internationalen Verträgen niedergelegt waren, zu einem einzigen, verständlichen Text zusammenzufassen. Diese Rechte sind in sechs große Kapitel unterteilt:

  1. Würde des Menschen,
  2. Freiheiten,
  3. Gleichheit,
  4. Solidarität,
  5. Bürgerrechte und
  6. justizielle Rechte.

Sie beruhen insbesondere auf den in der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannten Rechten und Grundfreiheiten, den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der Europäischen Sozialcharta des Europarates und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer sowie anderen internationalen Übereinkommen, denen die Europäische Union oder ihre Mitgliedstaaten angehören.

Der Charta-Entwurf wurde vom Europäischen Rat von Biarritz (13./14. Oktober 2000) gebilligt. Die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission unterzeichneten und proklamierten die Charta im Namen ihrer jeweiligen Institutionen am 7. Dezember 2000 in Nizza. Rechtlich bleibt die Charta jedoch bis heute unverbindlich. Zwar stärkt der geschriebene Grundrechtekatalog die Legitimität der EU, dies würde aber durch die Rechtsverbindlichkeit der Charta noch deutlicher geschehen.
Die Grundrechtecharta wurde von Anfang an als zentrales Element oder Fundament einer möglichen Verfassung beschrieben, der Konvent als Probelauf für einen Verfassungskonvent. Gerade diese Verbindung führte zum Widerstand gegen die Rechtsverbindlichkeit der Charta. Dennoch ebnete der Grundrechtekonvent den Weg für die Verfassungsdiskussion. Die positiven Erfahrungen mit dem ersten Konvent führten dazu, dass der Europäische Rat von Laeken sich im Dezember 2001 für die Einberufung eines zweiten Konvents zur Zukunft der Union entschied.

Der „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“ sah eine Einbeziehung der Charta in Teil II des Vertrags vor. Durch Ablehnung durch Frankreich und die Niederlande konnte der Verfassungsvertrag jedoch nicht ratifiziert werden. An seine Stelle tritt der Reformvertrag (Vertrag von Lissabon). Durch einen Verweis im Reformvertrag wird die Grundrechtecharta für rechtsverbindlich erklärt.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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