Architektur-Bionik

Schon 1846 wurde in England der Gärtner und Amateuringenieur JOSEPH PAXTON (1801–1865) durch ein Vorbild aus der Botanik zu einer neuartigen Gewächshauskonstruktion angeregt. Er sah, wie beim Blatt der Riesenseerose Victoria amazonica die strahlenförmig und konzentrisch verlaufenden Blattrippen das bis zu zwei Meter große Blatt so stabilisierten, dass es trotz seines Gewichtes nicht unterging.

Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen verarbeitete PAXTON in der Konstruktion eines ziehharmonikaförmigen gefalteten Glasdaches für Gewächshäuser. Mit seinem Patent wurde er 1851 beim Bau des legendären Kristallpalastes für die erste Weltausstellung in London berühmt.

Einige Jahre später kam der Schweizer Ingenieur KARL CULMANN (1821–1881) anlässlich einer Anatomievorlesung seines Freundes zu der Erkenntnis, dass die Knochenstrukturen des menschlichen Oberschenkelkopfes genau den Verlauf der Kraftlinien wiedergeben, die auf den Knochen bei Zug und Druck einwirken. Die seltsame Anordnung der Knochenbälkchen halfen CULMANN bei der Konstruktion eines Krans, denn sie zeigte die effektivste Weise, wie mit geringem Materialaufwand große Belastungen ausgehalten werden können.

Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, große Spannweiten mit minimalem Materialaufwand zu überbrücken, eine optimale Form für hohe Lasteinwirkungen zu finden oder auch hohen Winddruck bei Hochhausbauten abzufangen u. Ä., wird die Bionik in der Architektur bemüht, weil allen Naturformen ihre „zweckmäßige Tragwerkgestaltung“ gemeinsam ist.

Durch ihre Formdifferenzierung können Naturformen allen statischen oder dynamischen Lasten wirksamen Widerstand leisten. Ihr Tragverhalten erklärt sich aus den zweckmäßigen natürlichen Materialeigenschaften, die sich durch Auslese über einen langen Zeitraum herausgebildet haben. Form und Funktion sind beide auf das engste verzahnt. Räumlich gekrümmte Tragstrukturen, wie sie z. B. die Panzer der Krebstiere oder die Schalen der Muscheln aufweisen, erhöhen durch ihre Krümmung, durch Wellen und Rillen ihre Stabilität.

Die Architektur-Bionik untersucht in der organischen Umwelt diese harmonisch geformten Funktionsstrukturen mit dem Ziel, ihre Formbildungsgesetze und Formbildungsprinzipien in der gebauten Umwelt anzuwenden.
Es geht also in der Architektur-Bionik

  • um die Aufdeckung der Strukturbildungsgesetze in der Natur und
  • um Methoden zu ihrer Modellierung.

Bei den Ursprüngen der modernen Raumfachwerkkonstruktion halfen beispielsweise die Untersuchungen von ROBERT LE RICOLAIS (1894–1977) aus dem Jahr 1942 über Strahlentierchen (Radiolarien). Der Architekt RICHARD FULLER (1895–1983) konstruierte nach diesem Prinzip ein Raumfachwerk für den Pavillon der USA zur Weltausstellung 1967 in Montreal – eine Kugelform, bestehend aus Plexiglas und Stahl. Auch für andere Projekte auf der ganzen Welt benutzte FULLER dieses Konstruktionsprinzip.

Natürliche Zusammenhänge wie das „System“ Spinne – Netz – Beutetier dienten der Bionik zur Erkenntnisgewinnung. Von praktischem Interesse für die Probleme zugbeanspruchter Konstruktionen in der Architektur waren vor allem die Erkenntnisse zur Spannung eines Spinnennetzes.

Man kam bei bionischen Untersuchungen zu der Erkenntnis, dass jede Erscheinung der Natur, die für einen Zweck vorteilhaft ist – z. B. konstruktiv oder in Bezug auf Festigkeit und Materialökonomie – auch für andere Zwecke vorteilhaft sein kann. Aufgaben der Architektur unter dem Aspekt des Leichtbaus und des energiebewussten Bauens lassen sich bei richtiger Umsetzung der Prinzipien der Naturformen real lösen.

Dabei ist es für Architekten kaum möglich, die Naturform einfach zu übernehmen, zu vergrößern und sie durch andere Materialien zu realisieren. Biologische „Konstruktionen“ bilden in der Regel einen Komplex, der gleichzeitig eine Vielzahl unterschiedlichster Funktionen zu erfüllen hat. Deshalb gilt es vielmehr,

  • die Eigenschaften des Naturmaterials,
  • die Rolle des Maßstabes und
  • die grundsätzlich unterschiedlichen Bedeutungen

von Funktionen und Formen in organischer Natur und gebauter Umwelt zu berücksichtigen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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