- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 2 Demokratie in Deutschland
- 2.3 Politische Meinungs- und Willensbildung
- 2.3.10 Entwicklung der Demokratie
- Politische Selbstorganisation
Die Erfolge politischer Selbstorganisationen haben zu tun mit einem sich wandelnden Staatsverständnis. Längst steht der Anspruch im Raum, dass staatliche Souveränität den Menschenrechten nachzuordnen sei. Ökologische Katastrophen treffen nicht Nationalstaaten, Katastrophen nehmen globale Dimensionen an.
Politische Selbstorganisationen treten neben staatliche Akteure, Gewerkschaften und Unternehmerverbände und machen ihnen die alleinige Definitionsmacht über politische Anliegen streitig. Sie pflegen Nähe zu den Bürgern und besitzen in der Regel eine große Glaubwürdigkeit. Ihre Position ist zwischen Staat und Markt angesiedelt. Sie streben keine Regierungsbeteiligung an, suchen keinen wirtschaftlichen Gewinn, müssen sich nicht wie Parteien durch Wahlen legitimieren lassen und vertreten nicht spezifische Eigeninteressen ihrer Mitglieder wie andere Interessengruppen. Den Staat drängen sie in Verhandlungen; seinen hierarchischen Herrschaftsstrukturen setzen sie – national und transnational – Verhandlungssysteme und Netzwerke entgegen. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) agieren mit großem Erfolg transnational, denn die Probleme, deren Lösung sie sich verschrieben haben, machen nicht vor nationalstaatlichen Grenzen Halt, sie sind oft globaler Natur.
Der Begriff Selbstorganisation stammt aus der Kybernetik- und Synergiediskussion der 1960er-Jahre und bezeichnet Phänomene in den Naturwissenschaften. Die Sozial- und Geisteswissenschaften übernahmen ihn zur Kennzeichnung von politischen Ideen, die die etablierten Strukturen infizieren und einer Stabilitätsprobe unterwerfen.
Demokratie, verstanden als Gesellschafts- und Lebensform, weist deutliche Bezüge zu politischen Selbstorganisationen auf. Stichworte sind hier
Lokale politische Selbstorganisationen verstehen sich in der Regel als Sprungbrett hin zu einer sich verstärkenden Selbstorganisierung im Alltag. Sie sind überwiegend marktkritisch und antikapitalistisch eingestellt. Entsprechend entwickeln sie Modelle mit dem Ziel: „Immer weiter raus aus dem Markt, immer weiter rein in die Selbstbestimmung“. Typische Aktionsformen sind:
Politische Selbstorganisationen auf lokaler Ebene beanspruchen für sich:
Dazu bedarf es vielfältiger Ideen und Kreativität. Ihre Aktionen bleiben oft auf der symbolischen Ebene. Den NGOs und Vereinen, die mit staatlichen Instanzen kooperieren, werfen sie Verzicht auf die Chance zur gesellschaftlichen und politischen Veränderung vor. Sie selbst ziehen kurzfristige Aktivitäten mit öffentlicher Aufmerksamkeit vor. Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben; erreicht werden soll dieses Ziel über Solidaritätsstrukturen. In Seminaren bieten politische Selbstorganisationen Kurse zu Gratisökonomie, Tauschökonomie und Gemeinschaftsökonomie an. Ihre politische Kritik ist in erster Linie ökonomische Kritik.
Vorläufer ökologischer Bewegungen gab es als Heimat- oder Wandervogelbewegung in Deutschland schon Jahrhunderte lang. Zur Politisierung kam es durch die Anti-AKW-Bewegung Ende der 1960er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, so auch beim BUND beispielhaft für eine ökologische Bewegung in der Bundesrepublik. 1975 als Bund für Natur- und Umweltschutz gegründet, 1984 erweitert durch BUNDjugend und 1989 an das internationale Netzwerk „Friends of the Earth“ angeschlossen, ist der BUND mit 365 000 Mitgliedern und Spendern der größte Umweltverband Deutschlands. Die Finanzierung über hauptsächlich Spenden und Mitgliederbeiträge ermöglicht politische Unabhängigkeit.
Nichtregierungsorganisationen (NGOs – statt des Kürzels NRO setzte sich das englische NGO durch) entstanden erstmals im 19. Jh. Als älteste humanitäre Organisation gilt das Rote Kreuz (1874), 50 Jahre zuvor (1823) wurde die Foreign Anti-Slavery Society gegründet.
Rechtlichen Status erlangten NGOs nach dem Zweiten Weltkrieg in den United Nations und der UN. In der Bundesrepublik waren die Wegbereiter der NGOs die neuen sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre mit den thematischen Schwerpunkten Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung.
Doch mit den großen UN-Konferenzen in den 90er-Jahren des 20. Jh., die mittlerweile geradezu als das „Jahrzehnt der NGOs“ bezeichnet werden, wuchs ihre Popularität und damit ihre Zahl von 2 577 Internationalen Nichtregierungsorganisationen im Jahr 1968 auf 15 965 im Jahr 1997. Ihrem Verständnis nach ist die „Lösung der Weltprobleme zu wichtig, als dass sie den Staaten allein anvertraut werden dürfte“. Sie verstehen sich als Akteure einer „internationalen Zivilgesellschaft“. Dabei agieren sie grenzüberschreitend mit eigenen Formen, wie dem Konsumentenboykott, dem Protest, zivilem Ungehorsam, symbolischen Aktionen und Kampagnen. Zu den bekanntesten Selbstorganisationen zählen:
NGOs verstehen sich als Sprecher derjenigen ohne Stimme oder ohne die Macht. Advocacy, campaigning, expertise und lobbying sind die ihnen zugeordneten Stichworte.
Zu den größten international arbeitenden Organisationen gehört Greenpeace. 1971 gegründet, auf Gewaltfreiheit als oberstem Prinzip basierend, ist die Organisation unabhängig von Regierungen, politischen Parteien und wirtschaftlichen Interessengruppen, von denen sie keine Gelder annimmt.
Greenpeace Deutschland wurde 1980 gegründet und arbeitet national wie transnational.
Größte internationale Beachtung brachte die Brent-Spar-Kampagne 1995, als Greenpeace erfolgreich zum Konsumentenboykott aufrief, der Firma Shell so eine spürbare Umsatzreduktion bescherte und das Ölunternehmen darauf verzichtete, die Bohrinsel zu versenken.
Greenpeace arbeitet sehr effizient, stellt Umweltsünder durch medienwirksame Kampagnen an den Pranger, steht aber in der Kritik, streng hierarchisch, nach Konzernstrukturen organisiert zu arbeiten. Hier wird Effizienz durch Verzicht auf Basisdemokratie erreicht. Greenpeace hat einen offiziellen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen, der EU und der internationalen Walfangkommission.
Die Arbeit von NGOs wird durchaus auch kritisch gesehen. Aus linker Perspektive wird den NGOs ihre Verstrickung mit Markt und Staat vorgeworfen, ihr Verzicht auf Kampf gegen den globalen Kapitalismus. In der Tat nutzen heute Staaten wie auch die Wirtschaft Fachkompetenz, Flexibilität, Effektivität und das öffentliche Ansehen der NGOs. Das zeigt die gewachsene Bedeutung der Experten in den Organisationen. Ihre Expertise ist inzwischen in vielen Bereichen, nicht nur der Ökologie, unverzichtbar. Umgekehrt erhalten die NGOs ein Forum für ihre Anliegen; ihre Dokumentationen erreichen über die offiziellen Verteiler, beispielsweise bei den Vereinten Nationen, enorme Verbreitung.
Konservative Kritik richtet sich auf die Frage der Legitimität politischer Selbstorganisationen. So ist zwar der Vorwurf berechtigt, sie seien nicht politisch durch Wahlen legitimiert, aber sie sind legitimiert durch Spenden. Spender können Einfluss auf Handlungsmöglichkeiten nehmen, Zustimmung wie Ablehnung ausdrücken. Greenpeace verfügt dank der Spender über einen höheren Jahresetat als das kärglich ausgestattete Umweltprogramm der Vereinten Nationen.
Tatsächlich sind die nachweisbaren Erfolge von NGOs – gemessen am Einsatz (beim Umweltgipfel in Rio 1992 waren mehr als 1 400 NGOs akkreditiert), an der Höhe der Spendenaufkommen und an ihrer Popularität – eher gering. Dies trifft auf die klassischen NGO-Themen, wie Soziales und Umwelt zu, noch viel mehr aber auf „harte“ Themen wie Kontrolle der Finanzmärkte, Weltbankpolitik etc. Die Funktion von NGOs liegt vor allem darin, die allgemeine Öffentlichkeit aufzurütteln, als Moralisten aufzutreten, Probleme aufzuzeigen, zu visualisieren. Sie tragen zur Entwicklung einer globalen Öffentlichkeit bei, fördern das „Zusammenwachsen der Welt zu einer moralischen Gemeinschaft“ (ANSGAR KLEIN).
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