Neue Sachlichkeit

Stabilisierung nach 1918: Neoklassizismus und „Neue Sachlichkeit“

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 und der deutschen Novemberrevolution von 1918, setzen sich in der Musik die auch politisch oft radikalen Umwälzungen noch eine Zeitlang fort. Allmählich jedoch verebben diese revolutionären Impulse. Eine charakteristische Strömung, die einiges von diesen Impulsen noch auffängt, aber doch auf Kompromisse, Mäßigung und „Sachlichkeit“ bedacht ist, ist die „Neue Sachlichkeit“. Sie ist das deutsche Gegenstück zum internationalen Neoklassizismus. Diese Strömungen reagieren auf die nach dem Ende der nachrevolutionären Kämpfe und dem Ende der Inflation spätestens 1923/1924 durchgesetzte „relative Stabilisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft.

Nach expressionistischer, futuristischer und dadaistischer Revolte schlägt auch in der Musik das Pendel wieder in Richtung Rückkehr zur „Ordnung“. Dem entspricht der ab etwa 1920 von Paris aus international ausstrahlende Neoklassizismus.

Der Neoklassizismus wendet sich gegen Expressionismus wie Romantik. Entsprechend der Literaturtheorie des russischen Formalismus sollen das Künstliche, das Machen und die musikalischen Mittel bewusst herausgestellt und wahrgenommen werden. Neues entsteht vorwiegend durch Montage, durch Abwandlung von gegebenen musikalischen Elementen. Das Andersartige wird aber geglättet, homogenisiert, wird Stilkopie, Beschwörung einer oft nur scheinbaren Einheit und Fraglosigkeit vormoderner Musik.

In der Situation nach dem krisenhaften Zusammenbruch des Weltkriegs ist Stabilität gefragt. Der musikalische Zugriff auf die Vorvergangenheit, auf feste Formtypen, auf das Vorsubjektive und daher noch hinter die Wiener Klassik zurück scheint Sicherheit zu gewährleisten. Da auch Tonalität als Grundlage wiederum selbstverständlich scheint, wird die Entwicklung des Materials und der Musiksprache verlangsamt. Hauptvertreter ist IGOR STRAWINSKY (1882–1971). Längerfristig besteht der musikhistorische Ertrag des Neoklassizismus vor allem darin, das er jeweils vergangene Musik als Stil- und Material-Reservoir aufzufassen erlaubt, auf das zu zeitgenössischen Zwecken distanziert, stilisierend und umarbeitend zugegriffen werden kann.

Innerhalb der neoklassizistischen Stilistik hat neben dem Erstarrt-Erhabenen auch das Alltagsnähere Platz: so gibt es sinfonische Sätze mit Texten eines Katalogs von einer landwirtschaftlichen Ausstellung, über eine Dampflokomotive in den USA, über die Sportart Rugby (1928). Im Phänomen der Kurz- und „Minutenoper“ um 1927 für Musikfeste in Deutschland begegnen sich beide Strömungen, Neoklassizismus und Neue Sachlichkeit, sogar direkt. Hier werden große mythologische oder kleine Alltagsstoffe extrem komprimiert und auf die Dauer von zehn Minuten bis zu einer knappen Stunde reduziert. Schon dieser Effekt hat parodistisch-komische Züge und wird durch Text wie knappe, spielerische Musik noch verstärkt.

Neue Sachlichkeit als Hauptströmung der 1920er-Jahre in Deutschland

Die Neue Sachlichkeit ist zwischen 1925 und 1929 zunächst ein Schlagwort vor allem in Literatur und Bildender Kunst. Wie beim Neoklassizismus gibt es eine gemeinsame Frontstellung:

  • gegen Romantik, Expressionismus, Futurismus,
  • für Objektivität statt Subjektivität.

Diese Grundhaltung führt zu einer betont emotionsarmen Musik mit „motorischen“, unbeirrbar ablaufenden Prozessen. Musikalisch hat die Neue Sachlichkeit aber im Unterschied zum Neoklassizismus wenig mit Verfremdung oder dem Rückgriff auf Vergangenes zu tun. Sie zielt vielmehr auf aktuelle Realität. Darunter versteht sie die Welt

  • der Moderne,
  • der Massen,
  • der Technik und
  • des Tempos.

Dafür wird zeitgenössische populäre Musik – vor allem Jazz und jeweils aktuelle Modetänze wie Shimmy, Charleston usw. – einbezogen und das musikalische Material dadurch nicht unerheblich erweitert und bereichert.

Eine weitere Spielart ist der Neobarock, zu dem PAUL HINDEMITH (1895–1963) und zahlreiche andere musikpädagogisch orientierte Komponisten übergehen. Sie greifen vor allem auf die Musik des 17. und 18. Jh. zurück und beleben dabei das imaginäre Leitbild des „Musikanten“ wieder, der in der vermeintlich guten alten Zeit des Feudalismus in das höfische oder kirchliche Leben fraglos eingebunden war.

Viele Fäden und Verbindungen gibt es zur neuen Welt der Medien, besonders zum Rundfunk (Stichwort „Radio-Oper“). Die Gegenwart wird oft vor allem stofflich Gegenstand der Musik. Bezeichnend sind Gattungen wie

  • die „Zeitoper“, die Gegenwartsstoffe behandelt, oder
  • die „Radiooper“, die das neue Medium Hörfunk mit eigens auf die medialen Bedingungen zugeschnittener Musik (Verwendung eines kommentierenden Sprechers, kleine Besetzungen, durchsichtiger Tonsatz u.a.m.) zu erobern sucht.
  • ERNST KRENEKS (1900–1990) Zeitoper „Jonny spielt auf“ (1927) ist für einige Jahre eine Sensation und wird an zahlreichen Bühnen Europas aufgeführt.

Neue Sachlichkeit und gesellschaftskritische Musik

Von neusachlicher Musik gibt es in bevorzugten Gattungen, Material und Personal Verbindungen in Richtung gesellschaftskritische Musik. Dazu trugen vor allem

  • BERTOLT BRECHT (1898–1956) und
  • KURT WEILL (1900–1950), einer der Pioniere der Radiooper und des Zeit bezogenen Musiktheaters, bei.

In mehreren gemeinsamen Produktionen entwickelten sie ein zeitgemäßes, „episches“ Musiktheater mit einem differenzierten, dramaturgischen Einsatz der Musik. Ihr Erfolgsstück, die „Dreigroschenoper“ (1928), das selbst die Zäsur der Nazi-Zeit überdauerte, weist mit der Fabelführung und den Songs, die populäres Material aufgriffen und sofort populär wurden, einleuchtend nach, dass die Räuber Bürger sind.

Der Stil der „Neuen Sachlichkeit“ mit viel Motorik, „Tempo der Zeit“ einschließlich des Jazz und unsentimentaler Grundhaltung findet sich Ende der 1920er-Jahre ebenfalls in der politisch und sozial bewussten Musik, nicht zuletzt in der Musik der progressiven Arbeiterbewegung, die in anderer Weise auch an Massenprozessen, an Sachlichkeit als Aufklärung orientiert ist. Sie festigte sich nach 1918 organisatorisch mit einer großen Zahl von

  • Chören sowie Orchestern (Mandolinen, Ziehharmonika),
  • Kapellen (Schalmeien) und
  • „Agitprop“-Gruppen (Agitation und Propaganda), die kabarettistisch-satirische Mittel mit musikalischen verbanden.

Gegen Ende der 1920er-Jahre entfaltet sich durch HANNS EISLER (1898–1962) u.a. eine auch musikalisch bedeutsame Eigenständigkeit besonders in der Gestalt des politischen Agitationssong für Gruppen-Vorträge und Massenlied für große Versammlungen zum eigenaktiven Singen. EISLER komponierte einige bis heute bekannte Massenlieder nach dem Form-Vorbild des populären angloamerikanischen Songs, mit raffinierter untergründiger Motiv-Verknüpfung und mit modal angereicherter Harmonik wie das „Solidaritätslied“ (Teil der Filmmusik zu „Kuhle Wampe“, nach BRECHT, 1932).

Mit dem politischen Bildungsanspruch der Arbeiterbewegung kommen Bestrebungen von musikpädagogischer und neusachlicher Seite in der neuen Gattung des „Lehrstücks“ zusammen (u.a. „Die Mutter“ nach MAXIM GORKI, 1868–1936, oder „Die Maßnahme“ von BRECHT und EISLER, 1930). Das Lehrstück ist hauptsächlich zur Belehrung der aktiv Spielenden selbst gedacht, weniger zur Vorführung vor einem nur rezeptiven Publikum.

Schon in der Weltwirtschaftskrise 1929–1932 schrumpft der Spielraum für neue und fortschrittliche Musik dramatisch. Einige Werke beziehen sich kritisch auf diese Krisensituation, allen voran die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von KURT WEILL und BERTOLT BRECHT (1930). Die Machtübergabe an die Nazis führt in Deutschland dann zu einem nachhaltigen Bruch. 1933 endet diese Entwicklung. Von der „Neuen Sachlichkeit“ leben jedoch auch nach 1933 im „Dritten Reich“ einige Elemente, entschärft und umfunktioniert, im Zusammenhang mit musikpädagogischer und anderer „Gebrauchsmusik“ weiter.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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