Politisches Denken im westlichen und östlichen Kulturkreis

Trotz der Vielfalt verschiedener Ausprägungen innerhalb der Kulturkreise können Grundmuster im westlichen und östlichen Denken festgestellt werden.

Politisches Denken im westlichen Kulturkreis

Die vormoderne politische Philosophie sah den Menschen im Kontext traditioneller Lebenszusammenhänge als Teil sozialer Gemeinschaften (Familie, Clan, Stamm) innerhalb einer gegebenen (göttlichen) Ordnung. Der freien Entfaltung des Individuums waren durch – meist religiös begründete – traditionelle Werte und Regeln enge Grenzen gesetzt.
Im Zuge der europäischen Aufklärung wurden diese Vorstellungen grundsätzlich in Frage gestellt und durch ein modernes Welt- und Menschenbild ersetzt, das zur geistigen Grundlage der westlichen Demokratien der Gegenwart wurde: Mit dem Bedeutungsverlust der Religion (Säkularisierung) erscheint die Welt nicht länger als Ausdruck einer statischen Ordnung und verbindlicher religiöser Werte, sondern als Objekt, das der Mensch mithilfe der Wissenschaften erklären und verändern kann (Empirismus, Rationalismus). Gesellschaftliche Weiterentwicklung wird in dieser Vorstellung über die Beherrschung der Natur und wissenschaftlich-technischen Fortschritt erreicht. Im Zentrum steht das Prinzip der menschlichen Vernunft, die das Individuum zu Autonomie, Kritik, Freiheit und Selbstbestimmung befähigt.
Seit der Aufklärung basiert das politische Denken im westlichen Kulturkreis, der von den Religionen des Christentums und Judentums geprägt ist, auf der Vorstellung des selbstbestimmten Individuums (lat. = „das Unteilbare“) mit naturgegebener Würde. Der Mensch ist als handelndes und kritisch-reflektierendes Subjekt zu Selbstentfaltung und eigenverantwortlicher Gestaltung seines Lebens fähig.
In den modernen Staaten Europas und anderen westlichen Staaten (z. B. Nordamerika) hat sich die rationale Legitimation der politischen Ordnung durchgesetzt; die Staatenbildung wird als Ergebnis menschlichen Willens interpretiert (Trennung von Kirche und Staat). Die Naturrechtsphilosophen des 17. Jh. haben im europäischen politischen Denken die Idee verankert, dass der Mensch bestimmte vorstaatliche – „naturgegebene“ – Freiheiten und Rechte besitzt, die der Staat respektieren und schützen muss (Gesellschaftsvertrag). In den westlichen Demokratien der Gegenwart sind damit

  • das grundlegende Recht auf Menschenwürde sowie
     
  • individuelle Freiheits- und Mitwirkungsrechte verbunden, die die verantwortliche Mitgestaltung des Bürgers am gesamten gesellschaftlich-staatlichen Bereich einschließen und als unveräußerliche Grund- und Menschenrechte in den Verfassungen der jeweiligen Staaten festgehalten sind.

Politisches Denken im östlichen Kulturkreis

Durch das politische Denken im östlichen Kulturkreis (umfasst islamischen, sinischen, japanischen und hinduistischen Kulturkreis) wird der Mensch stärker in seinen Bezügen zu Traditionen und Religion und in seiner Einbindung in die Gemeinschaft gesehen. Im Unterschied zum modernen westlichen Denken, das dem Individuum große Bedeutung beimisst, gibt das östliche Denken tendenziell der Gemeinschaft und Tradition Vorrang vor dem Einzelnen.

Der islamische Kulturkreis hat sein geistiges Fundament in der Religion des Islam (arab. = „Hingabe an Gott“), dessen Regeln im Koran (Heiliges Buch des Islam) festgehalten sind. Der Koran enthält die vom Propheten MUHAMMAD (auch: MUHAMMED, MOHAMMED) zwischen 608 und 632 verkündeten Offenbarungen und betrifft das individuelle und gesellschaftliche Leben; er legt Gebote und Verbote fest, ist Grundlage des Rechts und zugleich Verfassung und Gesetzbuch des Staates. Alle Lebensbereiche werden an den religiösen Vorschriften ausgerichtet, die die privaten Glaubensüberzeugungen der Muslime (Anhänger des Islam) bestimmen und die Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben, das Staatsmodell und die Leitlinien für das politische Handeln vorgeben.
Der islamische Glaube findet seinen Ausdruck in den fünf Säulen des Islam (bzw. den vorgeschriebenen rituellen Pflichten der Muslime):

  • Glaubensbekenntnis zu dem „Einen Gott“ (Allah) und dem Prophetentum MUHAMMADs,
  • Verrichten der fünf täglichen Gebete,
  • Fasten während des Monats Ramadan,
  • Zahlen der Almosensteuer (Wohltätigkeit) sowie
  • mindestens einmal im Leben die Teilnahme an der großen Pilgerfahrt nach Mekka.

Das islamische Denken beruht auf der Einheit von Religion und Staat und kennt keinen Individualismus im westlichen Sinn; vielmehr hat der Mensch als Geschöpf Gottes ein gottgewolltes Leben nach religiösen Normen zu führen und sich der islamischen Gemeinschaft („Umma“) unterzuordnen, die nach göttlichen Prinzipien organisiert ist und höher bewertet wird als das Individuum. Im gesellschaftlichen Zusammenleben hat der Einzelne seine individuellen Interessen Staat und Gesellschaft unterzuordnen.

„Der Koran hebt die Pflichten, nicht die Rechte hervor; er insistiert darauf, dass individuelle Obligationen zu erfüllen sind, ehe das Individuum Rechte für sich selbst in Anspruch nehmen kann ... Im Gegensatz zu den westlich orientierten ... Auffassungen von einer Trennung zwischen Individuum und Staat lassen islamische Konzepte solche Unterscheidungen nicht zu ... Deshalb besteht kein zwingender Bedarf, individuelle Rechte als eine Gegenposition zum Staat zu konzipieren“ (M. CHERIF BASSIOUNI, islamischer Rechtswissenschaftler).

Der Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum findet sich auch im Denken des sinischen Kulturkreises: Der sinische Kulturkreis ist (neben dem Buddhismus) stark von der moralisch-religiösen Philosophie des Konfuzianismus bestimmt. Diese praktisch orientierte Lehre des chinesischen Philosophen KONFUZIUS (551–479 v. Chr.) war über Jahrhunderte (bis zum Ende des Kaisertums 1912) verbindliche Staatsdoktrin in China und prägt das gesellschaftliche Zusammenleben bis heute. Vorbild und Ziel des Konfuzianismus ist der „edle Mensch“, der konfuzianische Tugenden (v. a. Güte, Gehorsam, Ehrlichkeit, Ehrfurcht, Harmonie) mit einem großen Maß an Engagement für Familie und Staat verbindet (Bindung an die Familie, Hingabe an den Staat, Leben in der Gemeinschaft).
Die Familie hat als „Grundstein der Gesellschaft“ zentrale Bedeutung: Die gesellschaftlichen Beziehungen orientieren sich am hierarchischen Modell der patriarchalischen Familie, in der die Pflichten der Untergeordneten gegenüber dem Übergeordneten genau festgelegt sind (z. B. sind Frau und Kinder dem Mann als Familienoberhaupt untergeordnet, der wiederum zu lebenslanger Fürsorge für seine Eltern verpflichtet ist).
Auch die Staatsvorstellung folgt einem traditionell-hierarchischen Herrschaftskonzept, in dem Herrschaft von moralisch gesinnten, „edlen Menschen“ ausgeübt wird und auf dem Prinzip wechselseitiger Verpflichtungen beruht (persönliche Integrität, Fürsorge und Gerechtigkeit des „guten“ Herrschers; entsprechend Loyalität, Gehorsam und Dankbarkeit des Untertans).
Im konfuzianischen Denken sind soziale Beziehungen existenziell und vor allem unverzichtbar, um ein moralisches Leben zu führen. Im gesellschaftlichen Zusammenleben hat sich der Einzelne in ein hierarchisch organisiertes, soziales Beziehungsgefüge einzufügen und jeweils verschiedene Rollen zu übernehmen (z. B. Sohn, Bruder, Untertan), die mit bestimmten Verhaltenserwartungen verknüpft sind; individuelle Rechte treten hinter vielfältige Pflichten zurück, die jeder zu erfüllen hat. Im Mittelpunkt stehen die Tugenden der Menschenliebe, Gerechtigkeit und vor allem der Pietät („Ehrfurcht, Achtung“). Das Prinzip der Pietät bildet im Konfuzianismus die moralische Grundlage für Familienleben, Gesellschaft und Staat und verpflichtet die Untergeordneten dazu, dem Übergeordneten Ehrerbietung und Respekt unter strikter Einhaltung der überlieferten Sitten und Gebräuche (z. B. über Riten) entgegenzubringen. Zentrales Anliegen menschlichen Handelns ist Harmonie (nicht der Widerstreit verschiedener Interessen oder das offene Austragen unterschiedlicher Meinungen): Lebensglück entsteht nicht durch die Selbstverwirklichung des Individuums, sondern durch seine harmonische Einbindung in eine soziale Ordnung.

Aktuelle Entwicklungen im politischen Denken der verschiedenen Kulturkreise

Das traditionelle politische Denken steht der modernen Vorstellung der Entfaltung von Individualität bzw. individueller Emanzipation entgegen und widerspricht politischen Werten, wie Demokratie, Pluralismus, Freiheit und Gleichheit. Im Zuge von Modernisierung und Industrialisierung gewinnt aber auch im Denken des östlichen Kulturkreises Individualität zunehmend an Bedeutung.
Im westlichen Denken werden andererseits wieder gemeinschaftsbezogene Vorstellungen wichtiger, da die vielfältigen Krisenerscheinungen in modernen Industriegesellschaften auch als Folge des tiefgreifenden Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesses interpretiert werden (Vereinzelung und Vereinsamung, Verlust moralischer Werte und sozialer Bindungen).
So wenden sich Konzepte des Kommunitarismus (engl.: community = Gemeinschaft) gegen Tendenzen eines schrankenlosen, egozentrischen Individualismus, der das Allgemeinwohl zerstöre und zu einer Entsolidarisierung des Zusammenlebens führe (Fragmentierung und Atomisierung der Gesellschaft). Im Zentrum steht die Kritik an Theorien des Liberalismus, die individuellen Rechten den Vorrang gegenüber gemeinschaftlichen Zielen einräumen. Kommunitaristische Denker plädieren für eine Aktivierung des Gemeinschaftssinnes: Das Individuum soll sich wieder an den Werten konkreter Gemeinschaften orientieren (Familie, Kommune, Staat) und soziale Verantwortung übernehmen, um das Wohl der Gesellschaft zu erreichen. Die Gesellschaft soll über gemeinsame Werte integriert werden, die Vorrang vor individuellen Rechten haben sollen. Die kommunitaristische Denkrichtung vereint verschiedene politische Richtungen: konservative und patriotische Strömungen finden sich hier ebenso wie sozialistisch orientierte Tendenzen. Wichtige Vertreter des Kommunitarismus sind z. B.:

  • die Philosophen ALASDAIR MacINTYRE (* 1929) und CHARLES TAYLOR (* 1931),
  • die Politikwissenschaftler MICHAEL WALZER (* 1935),
  • BENJAMIN BARBER (* 1939) und AMITAI ETZIONI (* 1929).
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