Politische Jugendkulturen

Von der Industrialisierung bis zum Nationalsozialismus

Die Geschichte der Jugendbewegungen ist die Geschichte gesellschaftlicher Konstellationen, auf die sie reagieren. Die mit der schnellen Industrialisierung im 19. Jahrhundert einhergehende soziale Wert- und Prestigeverschiebung zugunsten des materiell erfolgreichen Wirtschaftsbürgertums löst beim Bildungsbürgertum eine Krise des Selbstverständnisses aus. Kulturkritisch bis kulturpessimistisch wendet es sich gegen die Säkularisierung der Welt, gegen Vermassung und Übertechnisierung und bereitet den Boden für eine lang währende kritische Haltung gegenüber der industriellen Massenkultur. Ein entstehender Jugendkult wird als ein Reich verkörperter Spontaneität und moralischer Unbedingtheit angesehen, als „Garant des Aufbruchs zum Morgen“ (FRIEDRICH NIETZSCHE, 1844–1900). Neuartig ist, dass Jugendliche an Wochenenden und in Ferien ohne Aufsicht Erwachsener aus Städten ziehen und sich einfache ländliche Lebensweisen aneignen. Die Wandervogel-Vereinigung und die Freideutsche Jugend weiten sich schnell aus.

Nach dem Ersten Weltkrieg spaltet sich die Jugendbewegung in

  • einen linken Flügel, der sich 1923 der KPD anschließt,
     
  • einen rechten Flügel, der für eine „völkische Gemeinschaft“ und ein „neues Reich“ eintritt und die Bündische Jugend hervorbringt,
     
  • und eine breite Mitte, die sich weiterhin aus der Tagespolitik heraushalten will.

Ist die Wandervogel-Jugend Teil einer breiten kulturpessimistischen Strömung, so war die Freideutsche Jugend bis zu ihrer Selbstauflösung 1923 durch lebensreformerische Experimente charakterisiert. Die Bündische Jugend gehört zur breiten nationalen, antidemokratischen Opposition gegen die Weimarer Republik.

Die sich nach links und rechts hin politisierenden Jugendlichen geben ähnlich wie die politischen Jugendgruppen der Parteien der Mitte die Distanz zur Welt der Erwachsenen wieder auf. Allerdings übernehmen auch manche Gruppen der politischen, christlichen, sportlerischen, berufsständischen und volksbürgerlichen Jugendorganisationen Formen und inhaltliche Positionen der Wandervogel-Jugend und der Freideutschen Jugend.
Die Jugendgruppen sind an Fragen nach Lebensstilen gebunden und finden ihren spezifischen Ausdruck in der jugendtypischen Mobilität mit neuen Formen: in Jugendherbergen, Zeltlagern, Wanderbewegungen, eigener Kluft, Fahrten. Neue Lebensstile werden mit traditionellem Vereinsleben kombiniert. Im Allgemeinen kommen die Angebote eher den männlichen Jugendlichen zugute, da die weiblichen in ihrer Freizeit stärker von Diensten in Haus und Garten beansprucht werden.

Die Nationalsozialisten können an Denkweisen und Lebensformen der Bündischen Jugend anknüpfen, als sie 1933 mit der Gleichschaltung aller autonom-politischen Jugendorganisationen beginnen. Politische Jugendkulturen in Distanz zum Staat lassen sich jedoch auch im Nationalsozialismus nicht verbieten. Die Swing-Jugend“ demonstriert ihre Ablehnung der „Volksgemeinschaft“ durch lässiges Outfit und Auftreten. Internationale Musikeinflüsse, Swing und Jazz, münden in eine politische Jugendkultur, deren unangepasste Anhänger ebenso wie die jugendlichen Edelweißpiraten mit ihrem Widerwillen gegen militärischen Drill und gleichgeschaltete Hitlerjugend häufig mit Konzentrationslager und Tod bezahlen.

Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Jugendkulturen anfangs politisch abstinent. Wiederaufbau statt Widerstand wird praktiziert. Mit der Öffnung zum Ausland, mit Filmen und Musikimporten, entsteht erneut jugendliche Subkultur, die langsam politische Züge annimmt. Die Bindung politisch interessierter Jugendlicher an Parteien schwächt sich zugunsten einer nur sporadischen Teilnahme an politischen Veranstaltungen ab. Neue Distanzierungs- und Protestformen bilden sich heraus. Der Rock'n Roll als Element jugendlicher Protestkultur verbreitet sich und wird zugleich kommerzialisiert.
Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch haben Jugendkulturen internationale Züge, lassen sich international inspirieren:

  • in der Jazz- und Swingbewegung,
  • in der Teenagerbewegung,
  • in der Beat-, Rock- oder Hippiegeneration.

Der internationale Charakter nimmt in den 1960er-Jahren noch einmal zu. Ein jugendspezifischer Markt bildet sich heraus und vermittelt seitdem vor allem über Musik Lebensstile und politische Haltungen.

1960er- bis 1980er-Jahre

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre lösen in der Bundesrepublik wie fast überall in Europa politische Jugendkulturen politische und gesellschaftliche Konflikte, Spaltungen, Änderungen aus. Die Kluft zwischen bundesrepublikanischer Gesellschaft und jugendlichen Lebensvorstellungen ist groß. Es gelingt den politischen Parteien, vor allem der SPD unter WILLY BRANDT, einen Teil des jugendlichen Protestpotenzials aufzufangen und in Jugendformationen und Wählerinitiativen der Partei zu integrieren.
Parallel dazu verbreitet sich das Repertoire politischer Aktivitäten von den konventionellen hin zu den bisher unkonventionellen Formen. Happenings und Demos werden Normalität. Emanzipation und Aufklärung sind ihre ideologischen Grundlagen. Kritik des traditionellen Familienlebens und Erziehungsalltags, der verdrängten NS-Vergangenheit und des starren Parlamentarismus der Parteien sind Inhalt und Arbeitsweise des studentischen Protests. Dem „Marsch durch die Institutionen“ (RUDI DUTSCHKE, 1940–1979) von Gesellschaft und Staat entziehen sich wenige der 68er-Generation. Sie finden sich nicht nur in der neuen ökologischen Partei „Die Grünen“, sondern in allen Parteien, und haben inzwischen entscheidenden Anteil an der politischen Führung des Landes.

Radikalisierte Jugendkulturen entstehen in den 1980er- Jahren. Hausbesetzer und „Autonome“ drücken Partizipations- und Integrationsansprüche aus, die positiv zu beantworten der politischen Führung Schwierigkeiten bereitet. Auch die „Grundstimmung“ hat sich verändert. War die 1968er-Generation noch von Machbarkeitsoptimismus erfüllt, verweisen nachfolgende populäre Studien, wie die des Club of Rome, auf Grenzen des Wachstums, auf atomare Bedrohungen und auf irreversible Umweltschäden. Den Teil der politischen Jugendlichen, der sich mit Friedens- und Umweltfragen auseinandersetzt, kann vor allem die neu gegründete Partie „Die Grünen“ befrieden, die explizit neue Formen und neue Themen in den politischen Alltag einbringt. Alternative Lebens- und Gemeinschaftsformen werden von jugendlichen Minderheiten gelebt. Bewahren erhält als Wert Vorrang vor neuen Erfahrungen.

Politische Jugendkulturen in der DDR

In der DDR treten politische Jugendkulturen sichtbar ab den 1970er-Jahren auf, vorhanden sind sie seit den 1960ern. In Übereinstimmung mit entsprechenden Erscheinungen im Westen erwächst aus der musikalischen Strömung der Rock-Musik eine soziale und politische Strömung, deren Merkmal Protest ist.
Quantitativ gewichtiger sind Veränderungen in den Folgejahren. Mit dem Rücktritt WALTER ULBRICHTs (1893–1973) im Jahr 1971 und der damit einhergehenden Generationsablösung differenziert und pluralisiert sich die Gesellschaft und es bilden sich unterschiedliche Lebensstile heraus. Die Suche nach alternativen Sinnhorizonten angesichts von industriegesellschaftlichen Problemen oder solchen, die auf die autoritär-politischen Eigenarten des Landes zurückzuführen sind, bewegt junge Leute und führt zu abweichenden Orientierungen und Werthaltungen. Häufig ist es die Kirche, unter deren Dach sich informelle Jugendgruppen mit Umweltfragen, mit Problemen des forcierten Wirtschaftswachstums, mit der pädagogischen Bevormundung durch Partei und Staat auseinandersetzen können. Zentrum einer unabhängigen Kultur, der Herausbildung einer Konfliktkultur, ist die Umweltbibliothek der evangelischen Zionsgemeinde im Prenzlauer Berg in Berlin.

Zu einem Kristallisationspunkt einer autonomen Friedensbewegung wird die Einführung des Pflichtfaches Wehrunterricht 1978. Der Protest dagegen weitet sich aus zur Kritik an der Militarisierung in Schulen, Ferienlagern, Massenmedien.

  • Christlich motivierter Pazifismus verbindet sich mit
  • politisch motivierter Ablehnung militärischer Veranstaltungen

und lässt eine autonome Friedensbewegung anwachsen. In Berlin und Dresden bekennen sich Tausende junger Leute zu Friedensforen; Umweltgruppen gehen mit Baumpflanzaktionen und Demonstrationen am Umwelttag der UNO an die Öffentlichkeit. Mit dem Zusammenschluss einer Gruppe Ausreisewilliger zur Initiative „Staatsbürgerrecht der DDR“ und den öffentlich vorgetragenen Freiheitsforderungen beginnt die Endphase des DDR-Systems.

Kommerzialisierung, Technologisierung und Globalisierung

Das ganze 20. Jahrhundert hindurch haben politische Jugendkulturen zur Welt der Erwachsenen in kritischer Distanz gestanden, haben Utopien entworfen und Gegenentwürfe geschaffen. In der 1990er-Jahren zeichnen sich Veränderungen ab. Die politischen Jugendgruppen der Parteien, wie Junge Union der CDU oder die Jusos der SPD, sind vornehmlich noch für jene Jugendlichen von Interesse, die aktiv und beruflich in die Politik gehen wollen. Der nicht geringen Reserviertheit vieler Jugendlicher gegenüber den Parteien entspricht ihr Wahlverhalten. Vor allem die großen Volksparteien verlieren Jungwähler, die häufiger kleineren und exotischeren Parteien mit geringen Chancen auf parlamentarische Vertretung den Vorzug geben.

Junge Menschen aus den neuen Ländern sehen sich konfrontiert mit dem Zusammenbruch der kulturellen und ökonomischen Errungenschaften ihrer Eltern, was eine stärkere Solidarisierung mit den Eltern auslöst, der Generationenkonflikt scheint aufgelöst.
Dem entspricht in den alten Ländern ein verstärkter Hedonismus, der einhergeht mit der Identifikation mit den Werten der Elterngeneration. Experimente mit Lebensformen sind allenfalls in einer partiellen Auflösung der bisherigen Geschlechtsrollen festzustellen. Androgynen Formen in den 1980er-Jahren folgt eine Feminisierung meist städtischer Jugend, national wie transnational. Jugendkulturen scheint in großen Teilen der kulturelle und politische Protest ausgegangen zu sein.
Veränderung bringt die Globalisierung der Märkte und Medien. Jugendkulturen sind Teil eines internationalen Marktes geworden. Markt und Kommerz bemächtigen sich jugendlicher Lebensstiläußerungen (Mao-Jacken, Tatoos, Punk-Frisuren ...), die abgelöst von politischen Inhalten beliebig verfügbar werden. Jugendkulturen werden als globale Trendsetter benutzt und tragen so zur kulturellen Homogenisierung bei. Sie sind die Avantgarde in „modischen“ Globalisierungsprozessen.

Neue Politische Jugendkulturen haben sich international dank medialer Vernetzung und hoher Mobilität gebildet. Sie treten vor allem als Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf, die Kritik und politischen Protest bündeln. Stilbildend für erfolgreich tätige NGOs ist seit seiner Gründung im Jahr 1961 Amnesty International, das sowohl national wie transnational agiert. Dem folgen im 21. Jahrhundert politische Jugendkulturen, denen in der Regel wenig Zeit bleibt, in einem politikfernen Raum Modelle zu entwickeln. Sie werden als kritische Ansprechpartner von Politik wahrgenommen.

Junge Menschen mit kosmopolitischen Orientierungen fordern von sich und den anderen globale Verantwortung und Solidarität mit Globalisierungsopfern. Wohlstand bereitet ihnen angesichts der Weltsituation Unbehagen. In Netzwerken setzen sie sich für die sozialgerechtere, demokratischere Gestaltung der Globalisierungsprozesse ein. Mittel dazu ist die Rückgewinnung politischer Gestaltungsspielräume.
Dem gegenüber stehen lokale rechtsorientierte Gegenkulturen, die sich gegen die kulturelle Vereinheitlichung durch Globalisierungsprozesse wenden. Unter dem Stichwort „Identität“ propagieren sie einen Rückzug in lokale und nationale Gemeinschaften, fordern Ausgleich des vermeintlichen staatlichen Kontrollverlusts und schüren Ängste vor kultureller Überfremdung. Der reale Kern ist in der Regel kein kultureller, sondern ein handfester ökonomischer, denn der Wohlstand soll gegen jene verteidigt werden, die besitzlos ins Land kommen.
Die Entscheidung von Jugendlichen für international oder lokal orientierte Organisationen und Netzwerke ist in starkem Maße von ihrer sozialen Herkunft beeinflusst. Wie die repräsentative Shell-Studie „Jugend 2002“ ermittelte, sind es vor allem Angehörige der unteren Schichten, die von der Globalisierung eher Nachteile erwarten.

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