Das Viktorianische Zeitalter in England

Das Viktorianische Zeitalter – Symbol für die Nation und Empire

Das Viktorianische Zeitalter ist nach der Königin VIKTORIA (1819–1901) benannt. Seit 1837 auf dem Thron, wurde ihre lange und weitgehend friedliche Regierungszeit zu einem Symbol für die Nation und das Empire.
Seit Mitte des 19. Jh. war Großbritannien die führende Weltmacht, gestützt auf seine Seeherrschaft und die weltweit zur Verfügung stehenden Exportmärkte dank des Kolonialreiches. Von Großbritannien aus trat der Wirtschaftsliberalismus seinen Siegeszug an. Der Übergang zum uneingeschränkten Freihandel brachte Großbritannien den Aufstieg zur bedeutendsten Handelsmacht der Welt.

Die Ära des Freihandels

Die Ära des Freihandels begann 1846 mit der Abschaffung der Getreidezölle in Großbritannien. Nur zögernd zogen die anderen europäischen Staaten nach. Erst der französisch-britische Vertrag von 1860 löste auf dem Kontinent die Periode des Freihandels aus. Es folgten weitere Verträge Frankreichs mit europäischen Staaten und dem Deutschen Zollverein. Die Industrialisierung Europas ab 1850 war überwiegend vom Freihandel geprägt. Dabei konnte die britische Nation ihre Vormachtstellung dank einer überlegenen und vorerst nahezu konkurrenzlosen Technologie, einer liberalen Sozialstruktur und ausreichender Kapitalreserven behaupten.
Mit der Wirtschaftskrise 1873/74 zeichnete sich aber bereits das Ende der Freihandelsepoche ab. Spätestens bis 1890 waren fast alle europäischen Staaten zur Schutzzollpolitik zurückgekehrt. Lediglich das durch seinen reichen Kolonialbesitz abgesicherte Großbritannien, Belgien und die Niederlande blieben bis zum Ersten Weltkrieg beim Freihandel. Großbritannien hatte aber im ausgehenden 19. Jahrhundert seine wirtschaftliche Führungsposition an Deutschland und die USA abgeben müssen.

Innenpolitische Entwicklungslinien

Ebenso wie in allen anderen europäischen Großstaaten gab es auch in Großbritannien seit der Mitte des 19. Jh. grundlegende verfassungspolitische Probleme. Dabei ging es auch um die Frage der politischen Mitbestimmung breiterer Bevölkerungsschichten, wie sie sich besonders im Wahlrecht ausdrückte. Anders als in anderen europäischen Staaten erfolgten die Veränderungen in Großbritannien schrittweise und ohne größere Erschütterungen des staatlichen Gesamtsystems. Dabei waren die Veränderungen im Wahlrecht die Eckpunkte für die großen Wandlungen im gesamten britischen Regierungssystem.
Insgesamt gab es zwischen 1832 und 1884 drei Wahlrechtsreformen, wodurch immer breitere Schichten zur Wahl zugelassen wurden. Dadurch konnte eine soziale Verbreiterung der Wählerbasis erreicht werden. Die traditionelle Bindung des Wahlrechts an das Eigentum wurde dabei aber nicht aufgegeben. Auch die Verteilung der Parlamentssitze wurde an die durch die Industrialisierung sich verändernde Bevölkerungsstruktur angepasst. Die traditionelle Aufteilung der Parlamentssitze in Stadt und Land blieb bei den ersten beiden Wahlrechtsreformen noch erhalten. Erst durch die dritte Reform 1884 wurde eine Gleichmäßigkeit des Wahlsystems hergestellt, indem Einmannwahlkreise mit annähernd gleicher Wählerzahl festgelegt wurden. Bereits 1872 war die geheime Stimmabgabe eingeführt worden, wodurch der politische Druck auf Abhängige deutlich vermindert wurde.
Nach der zweiten Wahlrechtsreform 1867 entwickelten sich aus den vorwiegend von der Aristokratie geprägten exklusiven Parteigruppierungen der Liberalen und Konservativen (Tories) moderne Parteien als Massenorganisationen. Die beiden Parteiführer, der Liberale WILLIAM E. GLADSTONE und der Konservative BENJAMIN DISRAELI, wurden zu den entscheidenden politischen Persönlichkeiten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. In ihren Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen in der Innen- und Außenpolitik waren sie auch Ausdruck des in Großbritannien bestehenden Zweiparteiensystems, mit dem Gegensatz zwischen Liberalen und Konservativen. DISRAELI (1804–1881) war 1868 und von 1874 bis 1880 Premierminister. GLADSTONE (1809–1898) war Premierminister 1868–1874, 1880–1885, 1886 und 1892–1894. Er stürzte zumeist über außenpolitische Rückschläge, wie die gescheiterte Sudanexpedition 1884/85 oder aber bei dem Versuch, Irland die Autonomie zu gewähren (1886).

Die Bedeutung des Suezkanals für den britischen Weltmachtanspruch

1854 erhielt der französische Diplomat und Ingenieur FERDINAND DE LESSEPS vom ägyptischen Vizekönig SAID PASCHA die Genehmigung für den Bau eines Kanals an der Landenge von Suez. Mit dem Suezkanal sollte die Schifffahrt einen Verbindungsweg vom Mittelmeer zum Roten Meer erhalten. Gleichzeitig hoffte man dadurch die Erschließung Afrikas und Asiens durch die europäischen Mächte zu erleichtern.
Großbritannien zeigte erstaunlich wenig Interesse an diesem Projekt, wohl auch weil es zunächst nicht an dessen Verwirklichung glaubte. Erst die feierliche Eröffnung des Suezkanals am 17. November 1869 führte zu einem dramatischen Wandel der britischen Afrikapolitik. Die Regierung in London wurde sich der Bedeutung des neuen Wasserweges für die Verbindung des britischen Mutterlandes zu Indien bewusst. Der Seeweg nach Indien wurde durch den Suezkanal deutlich verkürzt. Dies brachte nicht nur deutliche wirtschaftliche Vorteile, wie die Senkung von Frachtkosten, sondern der Kanal war auch von entscheidender strategischer Bedeutung für die Herrschaft Großbritanniens in Ostafrika und Südostasien.
Dennoch lehnte die britische Regierung 1870 den Kauf des Aktienpakets vom hoch verschuldeten ägyptischen Herrscher ab. Erst 1875 kaufte Premierminister DISRAELI, der auf mehr Stärke in der Außenpolitik setzte als sein Vorgänger, das ägyptische Aktienpaket (44%) für 4 Millionen Pfund. Damit war Großbritannien fast ebenso stark am Kanal beteiligt wie Frankreich.
Konsequent verfolgte die britische Afrikapolitik nun das Ziel, die Kontrolle über Ägypten zu erreichen. Dies gelang schließlich 1882 gewaltsam. Nach der Beschießung Alexandrias besetzten britische Marinesoldaten das Land. Bereits ab diesem Jahr fuhren rund 80 % aller den Suezkanal passierenden Schiffe unter britischer Flagge. Großbritannien hatte die strategische Bedeutung des Kanals erfasst und konsequent die Sicherung des Wasserweges für das Empire ausgeführt.

Die britische Herrschaft über Indien

1858 wurde Indien direkt der Krone unterstellt. Dies lag daran, dass nun niemand mehr befürchtete, dass Königin VIKTORIA ihren Machtzuwachs zur Aushebelung des Parlaments nutzen würde. Das Prinzip der konstitutionellen Monarchie hatte sich endgültig etabliert.
Unter dem neuen britischen Kolonialregime wurde der imperiale Staat ausgebaut. Der Generalgouverneur erhielt den Titel Vizekönig. Ihm zur Seite stand ein Gremium, in dem vom Vizekönig ernannte indische Honoratioren an der Gesetzesgebung mitarbeiten durften. Dies bedeutete eine Neuerung, hatte es doch vorher keine Gesetze, sondern nur Verordnungen gegeben. Eine Neuerung waren auch die Oberlandesgerichte, in denen auch indische Richter in hohe Funktionen aufsteigen durften. Auch wurden die Universitäten in Bombay, Kalkutta und Madras gegründet. Den Schlussstein in diesem imperialen Staatsgebäude bildete die Krönung von Königin VIKTORIA zur Kaiserin von Indien im Jahr 1876. Zwar reiste VIKTORIA nicht selbst nach Indien, es wurde aber eine große öffentliche Audienz abgehalten, zu der sich alle wichtigen indischen Fürsten versammelten. In bewusster Anlehnung an die Tradition der Großmogulen wollten die britischen Kolonialherren damit eine neue Loyalitätstradition schaffen.

Die innere Konsolidierung des britisch-indischen Reichs kam im späten 19. Jh. schnell voran. Eisenbahn und Telegraf verbreiteten sich rasch im ganzen Land, und Indien wurde in die Weltwirtschaft eingebunden.
Im Land regierten die Kolonialherren jedoch autokratisch. Junge Inder lernten an den Schulen und Universitäten zwar die Ideen der englischen Philosophen und das britische Regierungssystem kennen, waren aber von einer Beteiligung ausgeschlossen. Besonders der Zugang zum britisch-indischen Elitenbeamtentum wurde ihnen erschwert. Dies führte zu einer indischen Oppositionsbewegung, die sich im Indischen Nationalkongress sammelte. Der Nationalkongress traf sich zum ersten Mal 1885 in Bombay und reiste in den Jahren danach durch alle größeren Städte Indiens. Die von ihm gefassten Resolutionen blieben im Rahmen eines liberalen Konstitutionalismus, etwa mit der Forderung nach Erweiterung der gesetzlichen Gremien oder der Beteiligung gewählter indischer Abgeordneter.
Mit der Verfassungsreform von 1892 wurden diese Wünsche wenigstens teilweise erfüllt. Die Wahl einer begrenzten Zahl indischer Abgeordneter in die gesetzgebenden Körperschaften war darin vorgesehen. Diese mussten nach ihrer Wahl aber noch vom Vizekönig ernannt werden, der damit die letzte Entscheidungsgewalt immer noch in Händen hielt. Eine Reihe liberaler Nationalisten, die zu den Führern des Nationalkongresses zählten, nahmen nun ihre Sitze in den entsprechenden Gremien ein. Dadurch wurde es am Ende des 19. Jh. still um den Nationalkongress.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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