- Lexikon
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- 4 Literaturgeschichte
- 4.10 Literatur von 1945 bis zur Gegenwart
- 4.10.2 Die Nachkriegsliteratur
- „Draußen vor der Tür“ – Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will
Zu den aufwühlendsten Theaterstücken der Nachkriegszeit gehört WOLFGANG BORCHERTs Szenenfolge „Draußen vor der Tür“ aus dem Jahr 1947. Bis heute ist seine Wirkung ungebrochen und jede neue junge Generation eignet es sich auf ihre Weise an.
In nur wenigen Tagen hat der todgeweihte 26-jährige Autor das Stück im Frühjahr 1947 niedergeschrieben. Es wurde zunächst in verschlankter Fassung mit viel Erfolg als Hörspiel veröffentlicht, der damalige Chefdramaturg des Nordwestdeutschen Rundfunks gab ihm seinen Titel. Am 21. November 1947, einen Tag nachdem BORCHERT seinem schweren Leberleiden erlag, erfolgte die Uraufführung an den Hamburger Kammerspielen.
Hauptfigur des Stückes ist der 25-jährige, aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehrende Unteroffizier Beckmann. Er kommt zerlumpt, mit Gasmaskenbrille und zerschossenem Bein zurück in seine zerbombte Heimatstadt Hamburg. „Er war lange weg der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange.“ Er kommt ohne Hoffnungen aus dem Krieg zurück und als ein anderer:
„Und Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und abends manchmal auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch.“
Seine Erlebnisse lassen Beckmann nicht mehr schlafen. Er will zurück zu seiner Frau, aber er findet sie in den Armen eines anderen Mannes. Sein kleiner Sohn ist im Bombenhagel umgekommen. Der Tod ist während des Krieges ein feister Bestattungsunternehmer geworden.
Beckmanns Heimkehr beginnt für ihn mit einer bitteren Zurückweisung, sodass das Weiterleben keinen Sinn mehr für ihn zu haben scheint. Er beschließt in den Tod zu gehen, doch die Elbe, personifiziert als grobes Weib, wirft ihn wieder ans Ufer zurück. Er soll weiterleben, die anderen tun es ja schließlich auch.
„Such dir ein anderes Bett, wenn deins besetzt ist. Ich will dein armseliges bisschen Leben nicht.“
Beckmann ruft und erhält Antwort. Der „Andere“ ist die stärkere, zuversichtlichere Seite seines Ichs und überredet ihn zum Weiterleben. Ein junges Mädchen findet Beckmann am Strand und nimmt ihn aus Mitleid mit nach Hause. Sie gibt ihm trockene Kleidung ihres Mannes, der sich noch in Gefangenschaft befindet. Beckmann wird die Situation bewusst, er würde dem Heimkehrer das gleiche Schicksal bereiten, das ihn selbst bei seiner Frau erwartete. Plötzlich taucht dieser Mann auf, er hat im Krieg ein Bein verloren und wiederholt monoton Beckmanns Namen. Er ist einer jener Männer, die Beckmann in Russland auf einen Befehl hin auf ein tödliches Spähkommando schickte. Elf Mann waren wegen des sinnlosen Befehls ums Leben gekommen.
Der „Andere“ rät Beckmann, zum Obersten zu gehen, der ihm diesem Befehl gab, und ihm die Verantwortung zurückzugeben. Der Oberst hat den Krieg wie viele der Verantwortlichen weit besser überstanden und sich wieder in seinem bürgerlichen Leben komfortabel eingerichtet. Er sitzt mit seiner Familie am reich gedeckten Tisch, als der verstörte und abgerissene Beckmann bei ihm Einlass begehrt.
„Wissen Sie, wie das ist, wenn nachts so helle warme Fenster da sind und man steht draußen?“
fragt ihn Beckmann und erzählt ihm von seinen Albträumen, in denen die elf Kameraden, die er in den Tod schickte, auf ihren Knochen Xylophon spielen.
Der Oberst scheint ungerührt und unbelastet von Schuld und schweren Gedanken.
„Ich habe aber doch den Eindruck, dass Sie einer von denen sind, denen der Krieg die Begriffe und den Verstand verwirrt hat.“
Und so unternimmt Beckmann mit verblüffender Naivität einen Versuch, seine seelische Last los zu werden.„Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück,“ sagt er zum Oberst. Und er erinnert ihn daran, wie dieser in einer kalten Winternacht dem Unteroffizier Beckmann die zwanzig Soldaten anvertraut hatte, sich selbst aber von der Front wegbegeben hatte.
„Aber nun ist der Krieg aus, nun will ich pennen, nun gebe ich Ihnen die Verantwortung zurück, Herr Oberst, ich will sie nicht mehr, ich gebe sie Ihnen zurück, Herr Oberst.“
Die Zwanzig sind im Felde geblieben.
Der Oberst ist zunächst über Beckmann und sein wunderliches Ansinnen verunsichert, dann macht er sich jedoch lustig über ihn und rät ihm, seinen Humor auf einer Bühne auszustellen. Eine Flasche Rum bestärkt Beckmann in der Idee, in diesem großen Zirkus mitmachen zu wollen.
„Der Oberst hat recht, die Menschheit lacht sich kaputt . . . Es lebe das Gelächter über die Toten …“
Der betrunkene Beckmann bietet sich einem Kabarettdirektor als Komiker an, doch der will weder Beckmanns Gasmaskengesicht noch dessen Lied, mit dem man kein Publikum unterhalten könnte, das von authentischer Kriegserfahrungen genug hat. Beckmann wird hinausgeschickt, wieder steht er draußen vor der Tür und will in seiner Verzweiflung erneut ins Wasser. Da gibt ihm der „Andere“ den Rat, sein Elternhaus aufzusuchen. Beckmann hofft endlich heimzukehren, doch in der elterlichen Wohnung lebt nun eineandere Frau. Diese Frau Kramer erzählt ihm voller gehässiger Genugtuung, dass seine Eltern den Gashahn aufgedreht haben, denn sein Vater, ein kleiner Mitläufer, habe allzu gern die Naziuniform getragen und auf die Juden geschimpft. Und so hat man ihn nach dem Krieg „hochgehen lassen“, ihm „auf den Zahn gefühlt“ und der war „oberfaul“. Sie bedauert, dass man eine ganze Woche hätte kochen können von dem Gas, mit dem seine Eltern sich umgebracht haben.
Beckmann findet in der Heimat keine Zuflucht, nirgends lässt man ihn ein, doch die junge Frau aus der ersten Szene wendet sich ihm aus Liebe wieder zu, worauf ihr einbeiniger Mann den Tod in der Elbe sucht. Beckmann muss sich nun auch noch als dessen Mörder verantwortlich fühlen. Zuletzt begegnet Beckmann Gott, der ein alter schwacher Greis ist, der niemandem helfen kann und an den niemand mehr glaubt. Da auch die Elbe Beckmann zurückgewiesen hat, muss er leben, denn die „anderen“, die Reichen, Satten, die Älteren, dieSchuld an diesem Krieg tragen, tun es ja auch. Sie gehen achtlos an ihm, dem Lebensmüden, der auf der Straße liegt, vorbei. Der Tod allein, der Straßenfeger, der die vielen Toten achtlos beiseite fegt, eröffnet Beckmann eine Tür. Beckmanns verzweifelter Schrei nach dem Sinn seines Leids
„Wo ist den denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht! … Gibt denn keiner, keiner Antwort???“
bleibt ungehört und unbeantwortet.
Der todgeweihte BORCHERT hat ein Stück geschaffen, in dem er stellvertretend die Verzweiflung jener an Seele und Körper zerstörten namenlosen Kriegsheimkehrer hinausschrie, die in der Nachkriegsgesellschaft keinen Platz fanden. BORCHERT verarbeitete nicht nur die eigene, für sein junges Leben ungeheure Leiderfahrung, sondern er sprach das Schicksal seiner Generation aus, die nicht wie die ältere an Lebensroutinen der Vorkriegszeit anknüpfen konnte. Seine Generation hatte die existentielle Erfahrung des Krieges und der Gefangenschaft geprägt, diese jungen Männer waren kaum erwachsen, als sie in den Krieg geschickt worden waren. Eruptiv, durchsetzt mit alptraumhaften Visionen, Symbolen und starken Bildern, die am expressionistischen Stil geschult sind, hat BORCHERT seine Anklagen herausgeschleudert. Nicht in geschliffener Sprache, vielmehr nah an der Alltagssprache, in stakkatohaften Sätzen, doch mit hohem Pathos, Wiederholungen, langen Monologen und bewegenden Metaphern. So ist das Stück nicht aus einem Guss, nicht künstlerisch ausgefeilt, auch keines, in dem sich der rote Faden einer Handlung entwickelt oder Figuren miteinander agieren. Die Figuren geben vielmehr Beckmanns inneren Nöten und der Realität der Nachkriegsgesellschaft, die sich auf dem Vergessenwollen eingerichtet hat, Gestalt. Es ist eine Art Stationendrama, in dessen Verlauf Beckmann immer tiefer in die Krise stürzt. Die Unmöglichkeit zu leben tritt für ihn immer unabweisbarer zutage, wenngleich der „Andere“ ihm sozusagen den unerbittlichen Auftrag zu leben erteilt. Die krude Mischung, die unbedingte Authentizität, die auch nicht vor dem Pathos des Selbstmitleids zurückschreckt, die Verschränkung der historischen Verlorenheit dieser Kriegsgeneration mit den Grundfragen jeder neuen Generation an das Leben machen dieses Stück nach wie vor für junge Leute zu einem immer wieder neu zu entdeckenden Text.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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